Busch-Briefe

[201] Wenn ein gutes Buch von dreihunderttausend Leuten gelesen wird, so kann man darauf schwören, daß zweihundertachtzigtausend gar nicht das Kunstwerk lesen (und kaufen), sondern irgend etwas andres, irgend ein Ding, das sie sich zurechtgemacht haben. Sie lesen aus dem guten Werk für sich ein schlechtes heraus; sie hören bei Sternheim Kadelburgwitze, loben bei den ›Buddenbrooks‹ das Milieu, das sie bei ›Jettchen Gebert‹ und bei den ›Wiskottens‹ gleichmäßig entzückte, und haben so auch von je einen Publikums-Busch gehabt.

Es geht die dumpfe Sage, dieser Busch sei ein Philosoph gewesen. Aber die Leute lachen ruhig weiter über seine Bildchen und sagen: Es wird schon nicht so schlimm gewesen sein. Durch seine Biographen ists nicht besser geworden, und ganz und gar verstanden haben ihn nur Hofmiller und die ›Simplicissimus‹-Gruppe mit Doktor Owlglaß an der Spitze. Und grade dieser schwäbische Medikus, dem großen Niederdeutschen merkwürdig verwandt, hat schon oft auf diesen Wilhelm Busch hingewiesen, den die Leute so gar nicht kennen, und der nie großen Erfolg gehabt hat und haben wird. Von diesem andern Busch ist ›Eduards Traum‹, ein bilderloses, schmales Büchelchen, und von diesem andern Busch sind die wunderschönen Briefe an die Freundin[201] Multatulis, an Maria Anderson. Hofmiller: »Jeder, der Busch liebt, sollte sie besitzen.«

Busch ist der Reiter über den Bodensee, der sehr gut weiß, daß er auf einer gefrorenen Eisdecke galoppiert. Und wie dieser kräftige Mann den brüchigen Untergrund fatal lächelnd aufzeigt und dann immer wieder zu dem starken Lebensgefühl zurückkehrt, das es ihm ermöglicht, trotz alledem weiter zu atmen: das findet sich auch hier in den nachdenklichen Briefen. »Wer die nackte Wahrheit will, der mahle a2 + 2ab + b1 auf der Wind- und Klappermühle, deren Wichtigkeit ich sonst nicht verkenne. Wir aber, wir reden den hübschen ›blühenden‹ Unsinn. Wir sagen: Die Sonne geht unter; der Mond geh: auf. Hier ist der See. Der entschlummerte Tag haucht leise darüber hin. Die Wellen zittern und blinken. Sanft schaukelt der Kahn. Die Laute klingt. Aber tief unten im Grund liegt der Hort und Schatz der Wahrheit.« Er weiß alles. Wie wenig Worte taugen, und wie man das ganze Spiel in kein System und in keine Schablone bringen kann. Und wie man nicht sagen muß: ich bin, aber es ist nichts – sondern: es ist nichts, aber ich bin.

Mit allen Vorbehalten. Busch hat seine Bedenken gehabt. Er hat das Ganze hienieden aus der Vogelperspektive gesehen, und wer diese schönen Briefe liest, wird auch auf den vom siebenten Februar 1876 stoßen, und dann wird er gewiß zu lesen aufhören und ein Weilchen schmunzelnd knastern. Da steht: »Obgleich der Floh, wie Mann und Weib bekannt, gar pfiffig ist, besonders wenn es sich darum handelt, den ihm dräuenden Gefahren zu entschlüpfen, so scheint mir seine Intelligenz doch etwas einseitig zu sein. Winzig, unbändig, freiheitsdurstig, egoistisch, schnellvergänglich, wie er ist, dürfte es der plumpen Menschenhand wohl schwerlich gelingen einen bildenden Einfluß auf ihn auszuüben . . . Ehe nun die Vorstellung beginnt, lockt er (der Flohzirkusdirektor) seinen Hund, langt aus dem haarigen Urwald einige stachlige Wildfänge hervor, ›dressiert‹ ihnen mit einer kleinen Schere die Achterbeene, tupft ihnen etwas Gummi auf den Rücken – das Stück beginnt – und was sonst gehupft, das krabbelt nun. Nach Schluß des Theaters können die Künstler gehen, wohin sie wollen.« Der Leser wird hier ein wenig nachdenklich in die Luft sehen und sich der Verse des Doktor Owlglaß erinnern: »Zwackt mich die Angst als wie ein Hummer Kalt ins Genack, So blas' ich meinen Schreck und Kummer In einen Dudelsack.«

Und hier müssen wir unsern Schopenhauer wiederfinden: im Flohzirkus.[202]


  • · Peter Panter
    Die Schaubühne, 16.04.1914, Nr. 16, S. 460.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 201-203.
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