Der Schmock

[172] Wenn ich von hinten anfange, so muß gesagt werden, daß irgend jemand von Hofe der Vorstellung beiwohnte. Aus dem Maul einer Proszeniumsloge hing ein rotes königliches Tuch heraus. Das Publikum salutierte mit den Operngläsern. Das Orchester war ausverkauft.

Die Operette, die das Theater am Nollendorfplatz, allen zur Freude, keinem zum Leide, sondern zu Steuerpreisen vorführte, war in jeder Beziehung aus Wien. Jeder Gegenstand auf der Bühne wurde durch ein Kuhpleh beschmutzt, die Rosenlaube kam richtig im Refrain vor, die Beleuchtungsstärke und die Personenzahl standen in gradem Verhältnis zur Nähe der Aktschlüsse – es war alles in Ordnung.

Und in diesem Unfug, in diesem Wirrwarr von Dilettanten, Routiniers, Toiletten – stand Pallenberg nicht einen Moment still. Er gab etwas völlig Sinnwidriges: einen jüdischen Corpsier. Er kümmerte sich denn auch kaum um die Rolle, die ihm vorschrieb, eine Mensur zu[172] kommandieren: er gab Kattowitz, Posen und alle Schmöcke der Welt.

Es ist wirklich unglaublich, woher er das alles hat. Er sah ein bißchen ungepflegt aus; wenn er seinen Kneifer abnahm, konnte er wohl nur schlecht sehen, denn dann kniff er die ohnehin kleinen Augen faltig zusammen; er hampelte, wußte nie, wo er die Hände unterbringen sollte, und bot im ganzen das lustige Bild eines Mannes, der zwar alle Gesten seiner Umgebung mitmacht, aber in Wahrheit ganz wo anders steht. Er gemahnte an einen Reporter, der einer bequemem Berichterstattung halber das Kostüm des Landes angelegt hat und sich ziemlich echt vorkommt. Aber er ist doch aus Kattowitz: wenn er die Augen sanft schließt, weil ihm ein Walzer ans Herz greift, wenn er Takte und Rhythmen so mitjuckelt, in stillem Oioioi den Kopf schüttelnd; wenn er – und dies vor allem – immer vorneweg ist. Hätte einer gesungen: »Wer hat dich, du schöner Wald . . . ?« – dieser hier wäre der Mann, der vorträte, bescheiden, aber doch geschmeichelt, und spräche: »Ich! bitte schön.« Er hatte auf einmal Plattfüße und eine ganz flache Hand, die sich fragend und anklagend in die Lüfte strecken konnte. Er war so kümmerlich anzusehen, in seiner erbärmlichen Lustigkeit, in seiner übertriebenen Galanterie, die ihn kurze Verbeugungen machen ließ, aber nicht hinderte, wohl einmal dem Landesfürsten gutmütig vertraulich die Hand auf die Schulter zu legen. Und doch vergaß er nie sein Kattowitz: dankbar schrieb er noch im erhebendsten Augenblick eine Ansichtskarte nach Hause, versehen mit der Unterschrift einer richtigen Hoheit. Er drängelte sich an alle und alles heran, machte alles mit, rieb Salamander, oder wie diese Tiere heißen, steckte seine Nasenlöcher und Kneifergläser in alle Vorkommnisse und war schließlich bei der Mensur der typische Familienpapa, der herumtobt, ohne je zur Sache zu kommen. »Er wird mir sagen . . . !«

Im ganzen: ein Symbol der Presse. Er legte die Stirn in Falten – und wir hatten den Leitartikel; er wußte alles – das war der lokale Teil; er tanzte auf einem platten Fuß und ruderte mit den Händen herum – Feuilleton; er machte alle Geschäfte im Umkreis – Inseratenteil. Er war unheimlich echt, wir schmolzen dahin, Herzen wie Wachs, wie Wachs, wie Wachs. Und es tut einem immer wieder leid, daß dieses Prachtexemplar sich in einem solchen Zeugs abzappeln muß. Es ist, als wenn man von Meyrink eine Schreibübung in großen lateinischen Buchstaben verlangte. Wir wissen, daß er das kann, und sehnen uns nach den Gesammelten Werken.


  • [173] · Peter Panter
    Die Schaubühne, 05.02.1914, Nr. 6, S. 172.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 172-174.
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