Von dem Manne, der keine Zeitungen mehr las

[150] Andreas Grillruhm, ein reputierlicher junger Mann von behaglichem Äußeren, war lesender Abonnent dieser Blätter:

›Das tägliche Morgengebet‹. – ›Der Händehoch‹. – ›Allgemeiner Hinkender Politischer Bote für die Umgegend‹. – ›Die Türklinke. Organ für die Interessenvertretung der Türklinkenfabrikanten‹. –

[150] Morgens, mit der Rechten die Lasche des linken Zugstiefels emporzerrend, mit der Linken auf dem Tisch das ›Tägliche Morgengebet‹ ausbreitend, ließ er gierig alle Nachrichten in sich hinunterlaufen, die eine betriebsame Zeitung ihren Abonnenten zu vermelden hat: er las von den Auseinandersetzungen über die Schul- und Kirchenfrage in Budapest – er war nie in Budapest gewesen, kannte keinen Ungarn, auch ging ihn dieses Land nicht im geringsten an, – er las von der Weigerung des amerikanischen Leutnants Murphy, den Union-Jack an der Küste von Guatemala niederholen zu lassen, und er las vom dritten Friedensvertragsentwurf auf dem Balkan. Die Rechte ließ die Lasche los, der Stiefel saß. Auf dem rechten Stiefel folgte ein fesselnder Aufsatz des nationalliberalen Abgeordneten Mümmelmann über die Zukunft dieser Partei und eine kleine Plauderei über das Teppichklopfen. Die Krawatte machte die Sache schon schwieriger: aber bei einiger Übung konnte man ihre Bindung ganz gut im Spiegel mit dem einen Auge kontrollieren, während das andere wachsam den siegreichen Jüanschikai verfolgte und zugleich einen Streik in Spanien, den Einsturz eines Irrenhauses in Timbuktu und das fünfundzwanzigste Auftreten der Hofopernsängerin Metzger-Heink-Lattermann-Schumann-Ungibauer mit Befriedigung konstatierte.

Es folgte eine hellbraune schülprige Flüssigkeit, die man als Kaffee anzusehen hatte, und ein Chor aufgeregter Stimmen umbrauste den Jüngling: war es nicht wissenswert, die näheren Einzelheiten der präsumptiven Geburt des Thronfolgers zu erfahren? Und wie das noch werden sollte, wenn der Unmut der russischen Diplomatie über die französische, gemischt mit einer gewissen Entfremdung der Portugiesen und Dänen weiterhin anhielt, – das mochte der Teufel wissen. Ganz zu schweigen von den drei Raubmorden, dem Massenunglücksfall, den einzelnen Unglücksfällen, dem sportlichen Teil und der Plauderei über das Teppichklopfen, die man schon einmal gelesen hatte. Die Familiennachrichten kamen in der Fahrt zur Fabrik – einer Türklinkenfabrik, wie man bemerkt haben wird – an die Reihe und wollten gleichfalls bewältigt sein.

Kurz: ein aufgeregter Morgen.


Aber was geschieht? Dem Grillruhm brennt seine Türklinkenfabrik herunter. Ihm – ist eigentlich nicht richtig gesagt, seiner Versicherungsgesellschaft herunter.

Das ›Tägliche Morgengebet‹ brachte eine detaillierte Schilderung des Brandes mit vierzehn Zeilen Impression. Der ›Allgemeine Hinkende Politische Bote für die Umgegend‹ beschuldigte bei dieser Gelegenheit die herrschende politische Partei im Lande (war es die Linke? ich glaube, es war die Linke), daß nur unter ihrer Führung die Feuerwehren . . . und so. Der ›Händehoch‹ hatte gleich angeklingelt: er[151] möchte bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, seine Teilnahme auszusprechen, Teilnahme auszusprechen . . . eh – und anzufragen, ob es vielleicht Herrn Andreas Grillruhm sehr erwünscht wäre, wenn bei Gelegenheit der Aktualität seiner Person eine etwas genauere Darstellung seiner kaufmännischen Laufbahn . . . Grillruhm inserierte. – Das Blatt druckte daraufhin die morgengebetliche Schilderung ab, und die Sache war beigelegt. Was ›Die Türklinke‹ anbetraf, so wußte dieses Organ, was es seinen beiden Abonnenten schuldete, umsomehr, als der eine tot war . . . Schön.

Aber gab es da nicht noch ein Blatt, ein pfui! ein Blatt, dessen man sich zu schämen hatte? Allerdings. Es war dies ›Die Arbeiterfahne‹, ein durchaus oppositionelles Papier, das bei keiner Gelegenheit außer acht ließ, die Autorität der herrschenden Kaste insofern als etwas Verdammenswertes hinzustellen, als blutiger Arbeiterschweiß doch nicht der geeignete Boden sei, auf dem die edle Blume der höheren Menschlichkeit erblühen könne . . . Diese Zeitung unterschlug ihren Lesern den Grillruhmschen Fabrikbrand.

Grillruhm meditierte: Da die Angehörigen der arbeitenden Klassen nur ein einziges Blatt zu lesen pflegten, ihnen dieses Blatt aber den Feuerbrand nicht mitgeteilt hatte, so wußten auch die Angehörigen der arbeitenden Klassen nichts davon. Anzunehmen war aber, daß viele Angehörige der arbeitenden Klassen die Grillruhmsche Türklinkenfabrik dem Renommee oder dem Ansehen nach kannten. Sie wußten also von ihrer Existenz. Da ihnen nun niemand das plötzliche Aufhören dieser Existenz vermeldet hatte, so bestand doch die Fabrik – in der Vorstellung der Angehörigen der arbeitenden Klassen – ruhig weiter. Die Fabrik war mithin nicht abgebrannt.

Sie war aber doch abgebrannt.

Grillruhm (Andreas) hatte keine ruhige Stunde mehr. Was war das mit den Zeitungen? Er begann sich mit dieser Institution näher zu befassen. Er betrachtete liebevoll Einzelheiten. Er guckte schärfer hin und sah, was er früher nie bemerkt hatte.

Er stellte fest, daß sich die Zeitungen geheimnisvoller Einrichtungen bedienen müßten, wiederum Zeitungen, die nur von Zeitungen gelesen wurden, also Oberzeitungen, – denn wenn ein findiger Kopf herausgefunden hatte, daß unser Publikum eine gewisse Kinomüdigkeit befallen habe, und hinzugefügt hatte, daß trotzdem die Hydra des Kino überall ihr Haupt erhebe, so konnte man darauf wetten, daß man gleichmäßig im ›Morgengebet‹, im ›Hinkenden Politischen Boten‹ und beim Aufrollen der ›Arbeiterfahne‹, der von Bildung zeugenden Bemerkung mit der Hydra begegnen würde. Und so war es oft: glaubte man, daß dem Reporter an dieser Stelle sein Beruf solche Freude gemacht habe, daß er in überströmendem Gefühl seiner Schreibkunst das Großherzogliche Hofopernhaus einen Thespiskarren nannte, so mußte[152] man mit Betrübnis wahrnehmen, daß alle Zeitungen in der Runde den Karren aufwiesen, und daß es mit dem Impromptu wieder einmal nichts gewesen war . . .

Grillruhm meditierte weiter. Er begann allmählich die Nachrichten, mit denen man ihn täglich zweimal überschüttete, auf sich zu beziehen. Er fing an sich gelassen zu fragen, was ihm ein Stückchen abgehackte Notiz über die politischen Verhältnisse in Liberia nützen könne. Eine Notiz, die vermutlich wegen der hohen Kabelpreise da aufhörte, wo man seinen Wissensdurst erregt hatte. »Der Präsident ist nach der Hauptstadt abgefahren.« Nun – und was weiter? Ist er angekommen? Wird es ihm gelingen, die Rebellen zur Vernunft zu bringen? Kein Wort. Am nächsten Tag, am übernächsten Tag – kein Wort. Und so ging es so häufig . . . Eine aufsehenerregende Erfindung wurde bekannt gegeben. In Le Havre habe der italienische Ingenieur Ulivi an Bord der Jacht »Henriette« Versuche mit radioballistischen Apparaten angestellt, mit denen er imstande sein wolle, auf dem Lande und unter Wasser auf große Entfernungen Metalladern zu entdecken, die er sogar nach Mächtigkeit und Art bestimmen könne . . .

Paulus Grillruhm hätte früher offenen Mundes gläubig gehorcht: Saulus Grillruhm lächelte schmerzlich und voller Erfahrung; denn er wußte, daß er nie wieder etwas davon zu hören bekommen würde.

Die Zeitungen beunruhigten ihn. Er hatte schreckliche Träume. Einmal sah er sich oben an der Decke seines Zimmers hocken, das angefüllt war mit Zeitungen, er saß auf einem riesigen Stoß ›Täglicher Morgengebete‹, ließ die Beine baumeln und war verurteilt, eine Sonntagsnummer dieses Blattes auswendig zu lernen . . . oder es kam ihm in schlaflosen Nächten der Gedanke, ob nicht eigentlich die Ereignisse ihrerseits verpflichtet wären, sich nach der Zeitung zu richten. Denn jede baute schließlich ihre eigene Welt. Und das wäre ja noch angegangen, wenn diese Welt der Anschauung der Leser entsprochen hätte. Aber keineswegs: sie war feierlicher, abstrakter, und während die einen das Theater und andere zionistische Fragen in den Vordergrund ihres Weltbildes stellten, sorgten sich wieder andere um die Konstellationen am politischen Horizont (wie sie den nationalliberalen Stammtisch in Jägers Lokal zu nennen pflegten).

Grillruhm fühlte, daß das nicht mehr so weiter ginge. Er mußte jeden Tag ein Buch von zirka 200 Seiten und mehr durchfliegen – Himmelherrgott! man war doch schließlich kein Literat! –

Grillruhm bestellte seine Zeitungen ab.

Von da an wurde es stille und ruhig um A. G. Er hörte wohl noch ab und zu, daß jetzt wieder ein schreckliches Eisenbahnunglück in Jütland sich zugetragen habe, und daß in Cincinnati die reiche Frau des Mister E. H. Crocker sich scheiden lassen wolle, weil man ihr nicht die dreihundert Hüte jährlich bewilligte, die sie nötig zu haben meinte,[153] um überhaupt atmen zu können. Auch erzählte ihm vielleicht einer seiner Bekannten, der noch ein Zeitungsabonnement und einen weiteren Gesichtskreis hatte, etwas von den Kongressen, auf denen alljährlich mit zwei Drittel Majorität beschlossen wird, daß der Mensch von nun ab keine unsterbliche Seele mehr aufzuweisen habe . . . In diesen Beziehungen war Grillruhm auf seine fleißig lesenden Bekannten angewiesen.

Aber dafür hatte der Grillruhm einen riesigen Vorteil.

Morgens, wenn die Sonne so recht butterweich ins Fenster schien, war es nun still um ihn. Sehr ruhig, ganz ruhig. Früher hatte es gebrüllt: 400 Verletzte! Neu-Einstudierung von Wielands ›Oberon‹!! Zu der Frage über die elektrischen Bahnen unserer Stadt wird uns noch geschrieben . . .

Jetzt nichts mehr von alledem. Grillruhm sah zum Fenster heraus, betrachtete die Vögel auf der stillen Straße, beobachtete, wie die Morgensonne in hellgrünen Baumblättchen glitzerte, und ließ sich den frischen Morgenwind um die Nase wehen. Die Stadt erwachte, der Himmel war zart pastellblau, die Luft frisch. Der Grillruhm freute sich dessen, und viele gute Gedanken kamen ihm nun, da er erlöst war.

Kurz: ein ruhiger Morgen.


Einmal hat er aber doch noch Zeitungen gelesen. Das war damals, als er tot war.

Man hatte den verstorbenen Grillruhm aufgebahrt, wie es sich ziemte, und da lag er nun . . . Aber er hatte keine Ruhe. Denn noch wußte er nicht, ob er auch wahrhaftig tot sei. Dazu gehörte als Hauptmerkmal, daß die Presse seinen Tod anerkannte, ihn erst zu einem legitimen Tod machte . . . Hatte sie . . . ?

Der Selige erhob sich. Leise, um niemanden zu erschrecken. Es war immerhin zwölf Uhr nachts, nicht wahr? – Schlich an den sonst verwaisten Zeitungsständer. Da lagen die Blätter, neu angeschafft, denn dieser Grillruhm, der Sonderling, hatte ja keine Zeitungen gelesen . . . Hastig raschelte er in den Papieren . . . ›Tägliches Morgengebet‹ . . . ›Händehoch‹ . . . ›Die Arbeiterfahne‹ . . . ›Hinkender Bote‹ . . .

Gottseidank! – Alle vier! –


Und die erschreckten Verwandten fanden den Seligen am nächsten Morgen daliegend, die schlummernden Augen auf ein zerknittertes Papier gerichtet, das die friedlich gefalteten Hände hielten. Auf dem stand:

Als Toter empfiehlt sich

A. GRILLRUHM

Nickelkulk 13

Unsere ff. vernickelten Türbeschläge sind nach wie vor erhältlich.

R. J. P.[154]


  • · Ignaz Wrobel
    Die Schaubühne, 23.10.1913, Nr. 43, S. 1030, wieder in: Der Zeitsparer.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 150-155.
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