Home, sweet home

[183] Berliner Muse mit den runden Hüften,

den Tuchgamaschen und dem Samtbarett,

umgaukle du mich in den staubigen Lüften:

Komm, Göttin, sei mal nett!


Hier auf dem Rathausturm ists windig, Muse,

der kalte Zug reißt mir die Leier weg –

begleite mich, mein süßes Kind, halt du se:

Ich singe so freiweg.


Da liegt die Stadt – nur schön bei Regenstürmen –

teils an der Panke und teils an der Spree,

mit Synagogenkuppeln, Kirchentürmen

und einem Tanzpaleeh.


Und was da längs des grünen Bäumewalles

so gülden gleißt (ich weiß nicht, ob dus kennst):

das ist der Reichstag – doch es ist nicht alles

hienieden Gold, was glänzt.


In jener Gegend wohnt die große Presse –

sie macht erst unsre Zeit in Wort und Bild:

dort sättigt der Berliner sein Interesse,

nervös und injebildt.


Da hinten rechts, in jener dunstigen Weite,

liegt der Komödienhäuser dichter Hauf –

und gehn sie alle, alle langsam pleite:

dann macht man neue auf.


Und, siehst du, hier verbringt man so sein Leben.

Da draußen rauschen Wälder, Wolken ziehn –

Wir passen auf, was sie für Possen geben,

und wie sie vor den Uniformen beben! –

O du mein Heimatland, du mein Berlin!


  • [183] · Theobald Tiger
    Die Schaubühne, 05.03.1914, Nr. 10, S. 288, wieder in: Fromme Gesänge.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 183-184.
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