Selbstbesinnung

[259] Fort mit der sonst so aktuellen Harfe!

Heut pfeif ich mir nach eigenem Bedarfe

auf meiner Flöte einen in Cis-Moll

von dem, was ist; von dem, was werden soll.[259]


Von dem, was ist . . . Kaum kann uns etwas schrecken.

Mars schlägt mit Wucht auf sein verzinktes Becken –

laß bluten, was da bluten mag –

und er regiert die Stunde und den Tag.


Und er regiert die Stunde und das Jahr –

bedenk, wer damals noch am Leben war!

Und leise spielt – wie waren wir doch jung! –

der Leierkasten der Erinnerung.


Wie kannst du dich in all dem wiederfinden?

Du magst dich mühsam durch Systeme winden,

durch Pflichten, die es geben muß und gibt –

du siehst dahinter und wirst unbeliebt.


Laß dich von keinem Schlagwort kirren!

Von keinem Vollbart dich beirren!

Es schenkt dir niemand was dazu –

bleib, was du warst; bleib immer: Du!


Geheimrat Goethe sang nicht minder

vom höchsten Glück der Erdenkinder –

er war Ministerpräsident

und also sicher kompetent.


Man kehrt nach aller Schicksalstücke

doch immer auf sich selbst zurücke.

Drum wünsch ich dir nach dem Gebraus

dein altes, starkes, eignes Haus!


  • [260] · Theobald Tiger
    Die Schaubühne, 21.12.1916, Nr. 51, S. 584, wieder in: Fromme Gesänge.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 259-261.
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