›Aufgezogen‹

[197] Die deutsche Sprache ist um ein schönes Wort reicher. Erfunden haben es die Offiziere im Krieg, und so ist es ins Volk gedrungen, und weil es das ist, was der lateinische Grammatiker eine ›vox media‹ nennt – wir anderen sagen: Verlegenheitswort –, so erfreut es sich großer Beliebtheit und wird beinahe so oft angewandt wie ›nicht wahr?‹ – Das neue Wort heißt ›aufziehen‹.

Für ›aufziehen‹ hat Sanders zwölf Erklärungen, aber die neue ist nicht dabei. Man zieht ein Uhrwerk auf, die Segel werden aufgezogen, die Wache zieht auf, und die Wolken ziehen auf, man zieht jemanden auf, verspottet ihn . . . aber Sanders, der gute, alte Mann, wußte noch nicht, daß man auch einen ›Laden aufziehen‹ kann. Einen Laden aufziehen – das heißt: Schwung in die Sache bringen. ›Das Geschäft wird ganz groß aufgezogen‹ – das heißt: es steht auf finanziell breiter Basis. ›Wir werden das Ding schon aufziehen‹ – das heißt: wir werden es schon machen.

Aber nun gehts weiter: Fragen werden aufgezogen, Untersuchungen werden aufgezogen, eine Propaganda ist gut aufgezogen, es ist so ein richtiges Soldatenwort, denn es paßt immer.

Wustmann nennt solche Wörter Modewörter, – sie kommen und gehen und lange gehalten hat sich noch keines. Wer sagt heute noch ›voll und ganz‹ ohne die Anführungsstriche mitzusprechen? Wer sagt noch ernsthaft ›unentwegt‹? Wer ›naturgemäß‹? Von ›schneidig‹ ganz zu schweigen. Man trägt sie alle nicht mehr.

Es ist eine neue Zeit aufgezogen, in der die Soldaten nicht mehr so aufziehen wie früher, und wenn wir die neuen Vorschriften auf Pappe aufziehen, sehen wir, daß wir andere Kinder aufziehen als damals. Aber immerhin: es wird schon werden. Wir müssen es nur richtig aufziehen.


  • · Peter Panter
    Berliner Tageblatt, 10.11.1919, Nr. 535.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 197.
Lizenz:
Kategorien: