Kino-Atelier

[191] Da vorne klemmt ein Jraf sich das Monokel

platt ins Gesicht – die Bogenlampe zischt.

Ein Gazefräulein steht auf einem Sockel –

der dicke Regisseur brüllt: »Das is nischt!«


Zweihundertvierzig Mädchen trippeln zierlich

auf einer Treppe, steil bis unters Dach –

Ein kleines dickes Baby schluckt manierlich

die Milch –

der Chef macht mit der Diva Krach.


In dieser Ecke stößt ein Intrigante

dem Helden – brr! – das Messer in den Bauch.

In jener Ecke spritzt die gute Tante

der böse Neffe mit dem Gartenschlauch.


Die Dirne lümmelt sich an ihren Buhlen.

Der Herr Beleuchter macht sich nichts daraus

und knipst behufs Erzeugung einer schwulen

Verführungsszene eine Lampe aus.


Und wenn ich mir dies Atelier bekieke,

voll Kitsch und Lärm und Rummel, Schmerz und Spaß –:

dann seh ich vor mir unsre Politike.

Da spielt auch jeder nur die eigene Musike –

und an das Ganze denkt kein Aas.


  • · Theobald Tiger
    Ulk, 10.10.1919, Nr. 41.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 191.
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