Schwere Zeit

[67] Die Jungfrau in der Nebenstuben –

ich frage mich, was tut sie nur?

Ich hör die Stimme eines Buben –

so spät am Abend? Um elf Uhr?[67]


Wie er mutiert! Und ihre Stimmen

verklingen sacht – sie murmeln leis.

Bin ich der Zeuge einer schlimmen

Verbrechertat? Wer weiß! wer weiß!


Sie spricht ihm gütig zu. Belehrend

ertönt ihr lieblicher Sopran.

Er lacht: »Jawohl!« Dies ist erschwerend!

Was wird dem Knaben nur getan?


Sind das nicht halberstickte Küsse?


Ich frag sie später, was sie treibt . . .

Sie sagt: »Die geistigen Genüsse,

sie bringen nichts als Kümmernisse.

Es ist das einzige, was mir bleibt!«


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 27.03.1919, Nr. 14, S. 360, wieder in: Fromme Gesänge.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 67-68.
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