Silvester

[245] So viel Tage zerronnen,

so viel Monate fliehn;

stets etwas Neues begonnen,

dorrt es unter der Sonnen . . .

Hexenkessel Berlin!


Ich, der Kalendermacher,

blick nachdenklich zurück.

Mal ein Hieb auf den Schacher,

mal auf den Richter ein Lacher –

Aber wo blieb das Glück?


Schau, sie sind kaum zu belehren.

Denken nur merkantil.

Halten den Dollar in Ehren,

können ihn nicht entbehren –:

Liebliches Börsenspiel.


Mädchen – euch halten die Schieber!

Denn sie sind obenauf.

Geist –? Es ist euch viel lieber

Lack und Erfolg und Biber –

Das ist der Welten Lauf.


Nur mit dem Armband bekleidet

wandelt Melpomene.

Börsenfaun, er entscheidet,

woran die Loge sich weidet –:

kugeliges Dekolleté.[245]


Wie verbring ich Silvester?

Gib mir dein blondes Haar.

Fasse die Arme mir fester,

gib dich, du liebliche Schwester –

woll aus deinen Händen

Nacht und Entzücken mir spenden

und ein besseres, anderes Jahr!


  • [246] · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 25.12.1919, Nr. 53, S. 804.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 245-247.
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