Deutschland – ein Kasernenhof!

[373] Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fußspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen Köpfen, in einer Sphäre der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere äußersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferde dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn geht! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben!

Heinrich Mann: ›Der Untertan‹


Die Entente verlangt die Herabsetzung der Reichswehr auf hunderttausend Mann, die Auflösung der friedensvertragswidrigen Sicherheitswehr, die Auflösung der Einwohnerwehren, die gesetzliche Aufhebung der Wehrpflicht.

Schon einmal hat ein Franzose für Deutschland das Schlechte gewollt und das Gute geschafft: es hat keinen größeren Feind des deutschen[373] bundesstaatlichen Imperialismus gegeben als Napoleon und keinen wirksameren als ihn. Er glich einer Hure, die die Tochter der Wirtin deshalb anständig zu leben veranlaßte, weil sie keine Konkurrenz haben wollte – die Gesinnung war nicht schön, aber die Wirkung war gut. Dieses Volk ist noch niemals in der Lage gewesen, sich von seinen schlimmsten Feinden, den Kriegsknechten, selbst zu befreien. Das haben immer andere tun müssen.

Presse, Broschüren, Korrespondenzen und dickleibige Wälzer pensionierter Obersten werden ausführlich beweisen, daß Deutschland diesen Krempel von Wehren, das heißt sein altes Militär, weiter braucht. Hier regelt aber ein Urtrieb die Bedürfnisfrage, der Wunsch ist der Vater des Militärs, und so wenig Bolschewisten gibt es gar nicht, als daß die Offiziere und die von ihnen verseuchten Zivilisten nicht nach einer Armee riefen. Sie brauchen das.

Tief verwurzelt im Deutschen der Drang in Reih und Glied zu stehen, oder vielmehr die andern in Reih und Glied stehen zu lassen. Dieses Volk liebt es, Vorschriften zu ersinnen, die immer für die andern gelten. Dazu kommt ein alter, tierischer Herdentrieb: allein sind diese Leute nichts, wenn sie nicht in dumpfer Masse auftreten, ist ihnen nicht wohl, nur im Haufen fühlen sie sich sicher, und der Haufe gibt soviel Kraft! Das Gemeinschaftsgefühl erstickt das Persönlichkeitsgefühl des einzelnen fast völlig; wenn sie sich unter eine Fahne scharen, ist es, als seien sie allesamt vom bösen Geist besessen, und der Wille der Schar ist nicht etwa die Summe der einzelnen Personen, sondern etwas völlig Neues. Dieser neue Gemeinschaftsgeist beschattet die Gehirne der einzelnen wie die heilige Taube, und die Leute sind nun unter dem Einfluß dieses neuen Gemeinschaftswillens zu Handlungen fähig, die sie niemals als Einzelpersonen vorgenommen hätten. (Daher die unfaßbare Roheit der Deutschen ›im Dienst‹, die in so merkwürdigem Gegensatz zu ihrer privaten Gutmütigkeit stand.) Hier handelt es sich um nationale Urtriebe, die nicht von heute auf morgen zu beseitigen sind. Aber der Anfang mußte gemacht werden. Der Deutsche, gewohnt, in seiner Regierung eine Knutautorität und die Bestätigung seiner militaristischen Sittlichkeit zu sehen, hätte doch wohl im November des Jahres 1918 erstaunt aufgehorcht, wenn statt Noske, dem Knecht Gottes, ein Kopf und kein Hintern auf dem Stuhl eines deutschen Reichswehrministers gesessen hätte. Ein Mann, der grade die vielgerühmten alten Tugenden der preußischen Armee nicht hätte gelten lassen, der gerade diese alten Traditionen verworfen hätte und der bewußt und energisch gegen den altpreußischen Geist und nicht mit ihm zu regieren verstanden hätte. Dabei wären einige schätzenswerte Eigenschaften, die – mit einer Unzahl schlechter gepaart – in der deutschen Ritterkaste schlummern, zum Teufel gegangen, aber man hatte zu wählen: alles oder nichts. Man kann das nicht trennen:[374] Roheit und Willensstärke sind in dieser Kaste derart miteinander verwachsen, daß man nur beide annehmen oder ablehnen kann. Der Deutsche hat sie wiederum angenommen.

Der Hallo, der sich nun ob der Entente-Forderung über das Militär erheben wird, stammt zunächst zu neunundneunzig Prozent von Leuten, die fürchten, auf die Straße gesetzt zu werden. Aber im Untergrund schlummert doch noch etwas anderes. Im Untergrund ist es diese tiefe Liebe zur Macht, die sie protestieren läßt: diese herrlichen Möglichkeiten für einen uniformierten Bauernjungen, Zivilisten straflos puffen und knuffen zu können, diese herrlichen Möglichkeiten für die wie die Zinngötter der Neger angestrichenen Offiziere, weiter durchs Leben zu schnarren und zu blitzen, weiter Geld für eine Tätigkeit zu beziehen, deren Segen niemand und ihren Fluch jeder merkt, weiterhin den dreimal gepriesenen Krieg zu spielen! Denn Sünde und Fluch ist schon, wie sie eine Aufgabe anfassen, und daß sie sie anfassen, und mit welchen Fingern sie Probleme ›lösen‹, und wie sie im heiligen Organisationsfimmel glauben, mit Berichten, Dienststellen, Ämtern, Rangabzeichen, kurz: mit dem Apparat sei irgend etwas getan. Gerade das nicht. Gerade im Kernpunkt ihrer Weltanschauung, gerade in dem, was sie für die Grundlage männlicher und menschlicher Tüchtigkeit halten, gerade in dem muß ihnen der Band mit den Kriegsartikeln solange um die Ohren geschlagen werden, bis in diesen dickschaligen Gehirnen langsam und schwerfällig der Gedanke heraufdämmert, daß es außer dem Kasernenhof noch eine andere Welt gibt. Das allein wäre Revolution.

Denn will man eine ganze militaristisch verseuchte Schicht dieses Landes treffen, so muß man beim Feldwebel, der auch den Rang eines Oberleutnants haben kann, anfangen. Verzückt stierte ein ganzes Volk auf die gleißende Schicht, von der mit Füßen getreten zu werden für Ehre und selbstverständliche Pflicht galt. Den bunten Edlen ahmte die Nation nach: wie sie trug man das Monokel, den Scheitel und an hohen Fest- und Feiertagen die Uniform, wie sie liebte man Sekt, Pferde und Weiber (eine Liebe gemischt aus Zärtlichkeit und Verachtung) – wie sie lebte man das deutsche Leben. Verzerrt und karikiert stieg das Leutnantsideal in verbildete Schichten des Kleinbürgertums. So lächerlich kann wohl niemand auf der Welt schnauzen als der deutsche Beamte, so rüpelhaft und knotig tritt niemand auf als der Subalterne des deutschen alten Regimes. Die Nation trug den Kasernenhof in ihrer Seele, ein Kommando, und die Köpfe flogen nach rechts, ein zweites, und sie flogen nach links – das war das einzige, was diese Köpfe taten. – Zum 27. Januar hätte die bürgerliche Schicht und was darüber saß ihrem Landesherrn am liebsten einen Gewehrgriff als Ovation dargebracht . . .

Und das soll schwinden? Es muß schwinden. Was die Entente mit[375] imperialistischer Gewalt in bösem Sinne von der deutschen Regierung erzwingen will, das wollen wir im geistigen Kampf für einen guten Zweck. Hier treffen zwei Welten aufeinander – es gibt keine Brücke. Du oder ich, wir oder sie! In diesen Wehren, deren Summe weit stärker ist, als das alte stehende Heer und die Milliarden und Milliarden kosten, verkörpert sich der schlechte deutsche Geist. Es gibt einen guten. Aber er trägt nicht die Züge eines Offiziers.

Grau, klein und häßlich liegen die Baracken und Kantinengebäude am Rande des sandigen Platzes. Rufe hallen über die staubige Fläche: »Dir verdammten Synagogendiener trete ich ins Kreuz, daß du . . . !« Ein kleiner Hund bellt. Es riecht nach Essen, Leder, menschlichen Ausdünstungen und ärgerem. Leise mit den Sporen klingelnd geht ein junger, eleganter Mann über den Platz. Er kommt von einer Frau, ist jetzt im Dienst und geht ins Kasino zur Bowle. Er lächelt. Welch ein Leben –!

Wir aber wollen Bäume auf diesen Platz pflanzen und einen Springbrunnen darauf anlegen und Arbeiterwohnhäuser und eine Schule für Kinder – und erst wenn wir diese Armee und diese Wehren zerschlagen haben, darf niemand mehr sagen: »Deutschland – ein Kasernenhof!«


  • · Ignaz Wrobel
    Volkszeitung für den Weichselgau, 10.07.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 373-376.
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