Die Mordkommission

[338] Das Berliner Polizeipräsidium hat eine Mordkommission, die, wenn ein Mord entdeckt wird, an den Tatort fährt und dort die ersten Feststellungen macht. Sie besteht aus Regierungsräten, Gerichtsärzten und Kriminalschutzleuten. Die Mordkommission ist jederzeit, Tag und Nacht, erreichbar und arbeitet prompt.

Der preußische Militarismus hat Mordkommissionen, die, wenn ein Pazifist entdeckt wird, an seinen Wohnort fährt und dort die nötigen Veranstaltungen trifft. Sie bestehen aus Offizieren, Soldaten, Gendarmen und Spitzeln. Die Mordkommissionen sind jederzeit, Tag und Nacht, erreichbar und arbeiten prompt.

Hans Paasche ist auf seinem Gut im Kreis Arnswalde ermordet worden. Das heutige Deutschland hat nicht mehr die Macht, das Leben seiner Bürger in allen Fällen zu schützen. Die Ermordung Paasches unterscheidet sich juristisch in gar nichts von einer Mordtat durch irgendeinen versoffenen Landstreicher – nur daß in diesem Falle, wie es sich von selbst versteht, der staatsanwaltliche Apparat zu spielen anfängt und Verwaltung und Justiz sich alle Mühe geben, den Täter zu fassen und ihn unschädlich zu machen. Der Fall Paasche liegt in doppelter Hinsicht schwerer.

Die Tat ist erstens niedriger, als die eines Penners, der gerade Geld braucht und einen reichen Bauern erschlägt. Die Tat ist deswegen gemeiner, weil sie unter dem Deckmantel einer dienstlichen Verrichtung begangen wurde, also feiger ist. Niemand ist feiger als der deutsche Militarist von heute. Diese Mordtat beruht wie fünfzig andere, die vorhergegangen sind, auf der drehwurmartigen Vorstellung des Deutschen, daß eine ›Diensthandlung‹ überhaupt niemals unrecht sein Könne. Im Augenblick, wenn ein ›wachthabender und diensttuende‹ Offizier einen Kordon ziehen läßt, im Augenblick, wenn Befehle und Kommandos ertönen, wenn abgesperrt und verhaftet wird, so vergißt ein halbes Land, daß im Grunde nichts weiter vorgegangen ist, als daß eine Rotte beauftragter Menschen einen andern ergriffen und getötet haben. Mit Dienst hat das gar nichts zu tun.

[338] Der Fall liegt zweitens deshalb schwerer, weil Verwaltung, Militärgerichtsbarkeit und Regierung seit dem November Achtzehn in diesen Fällen wie gelähmt sind. Wir wollen uns da nichts vormachen: sie wollen nicht. Keine Formalität ist zu dumm, als daß man sie nicht heranzieht, um die bunten Mörder zu retten, keine Ausrede zu kindisch, keine Entschuldigung zu leer. Das letzte Buch Franz Werfels heißt ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig!‹. Soweit sind wir gekommen, daß heute fast die gesamte reaktionäre Presse kein Wort der Verurteilung gegen die Mörder findet, wohl aber mit Naserümpfen und verurteilendem Tonfall Herrn Paasche bescheinigt, er sei Kommunist und extremer Pazifist gewesen. Dann freilich durfte er wohl ermordet werden.

Daß die Kugel eines Verbrechers einen Falschen getroffen hat, daß Hans Paasche längst ein gebrochener und weicher Mann war, der aus persönlichen und sachlichen Gründen an einer von ihm vertretenen guten Sache fast verzweifelt war, daß er nur noch matt und hier und da leichte und belanglose politische Dinge tat –: das ist den alten Preußen gleich. Er war Offizier gewesen, er hatte einmal gewagt, an der Gottähnlichkeit des militärischen Apparats zu zweifeln, und das verzeihen sie nie. Diese Banden unterscheiden sich in nichts von Räubergesellschaften in Rußland, die ohne nur eine Vorstellung von der Idee des Bolschewismus zu haben, unter seiner Flagge Erpressungen und Mordtaten begangen haben mochten.

Ich stelle fest: die Militärmacht Deutschlands besteht aus der Reichswehr, aus den Sicherheitswehren, aus der Gendarmerie, aus dem Ortsschutz und den Einwohnerwehren. Die ressortmäßig feine Unterscheidung zwischen ihnen ist völlig belanglos – es glaubt kein Mensch im Ernst, daß die militärisch organisierten Sicherheitssoldaten keine Soldaten, sondern Beamte, wie etwa Steuerbeamte seien. Diese Militärmacht stößt Mörder aus ihren Reihen nicht aus. Es darf also ausgesprochen werden: In der deutschen Militärmacht dienen Mörder.

Die Regierung schweigt. Tief sitzt ihnen in den Knochen die alte Sehnsucht zum Tempelhofer Feld, tief die alte Ehrfurcht vor dem Offizier, dem sie mit Wonne salutierten. Weiß der Wachtmeistersohn nicht, wie ein politisch militärischer Bericht zustande kommt? Weiß er nicht, daß nur wirtschaftlich und moralisch faule Existenzen sich zum Spitzeldienst hergeben, und daß sehr viel Menschenkenntnis und noch mehr Takt dazu gehört. Agentenberichte richtig zu verwerten? »Das Wehrkreis-Gruppenkommando meldet . . . « Es lügt – denn es geht um die Wurst: um seine Existenz. Wir dürfen dieser Gesellschaft selbst den guten Glauben absprechen.

So treiben wir dem Bürgerkrieg zu. Zögernde Ängstlichkeit hüben und resolutes Zufassen drüben. Wer ist eigentlich im letzten Jahr ermordet worden? Monarchen, Heerführer, reaktionäre Politiker?, eine[339] Reihe fortgesetzter Mordtaten gegen die Führer der oppositionellen Parteien, eine Kette ekelhafter Blutflecke, ein ausgeführter Hochverrat, Schüsse aus dem Hinterhalt, Erschießungen auf der Flucht und Schläge mit der geistigen Waffe Preußens, dem Seitengewehr, – sie haben die bürgerliche Gesellschaft nicht zu belehren vermocht, daß Verbrechertum und Gewaltpolitik rechts sitzen. Sie stieren nach links wie der Frosch auf die Schlange.

Auch dieser Mord wird ungesühnt bleiben. Auf das leere Klappern des offiziösen Apparats brauchen wir kaum noch hinzuhören. »Die Mörder mußten annehmen . . . sie befanden sich in dem Glauben . . . es liegt insofern ein Mißverständnis vor . . . «

Blut schreit zum Himmel. Ein Ermordeter liegt da und verwest, mit gebrochenen Augen, den Kinnladen heruntergeklappt, das weiße Gesicht nach oben gekehrt. Und eine Frage steigt auf aus der Erde: Warum? Mein Gott, warum? Weil wir es uns gefallen lassen. Weil keiner da ist, der einem in ohnmächtiger Wut geballten Volk den Weg zeigt, diesem Lande zu helfen. Ist keiner da?

Rechts steht, dunkel und entschlossen, die Masse von Militärs und Geldleuten, die wissen, was sie wollen und wen sie wollen. Auf die Demokraten ist mit geringen Ausnahmen kein Verlaß. Das wackelt im Winde auf und nieder, berichtet schaudernd von den Taten des einen Holz und weiß nichts von denen, die Hunderte von Offizieren dauernd begehen. Diese Demokratie hat einen doppelten Boden. Die rechtssozialistischen Arbeiter wachen langsam auf, ihre Führer in den Ämtern schlafen.

Ist keiner da? Wir sind da. Und brauchen uns nur auf unsre Kraft zu besinnen und darauf, daß diese ganzen bewaffneten Organisationen nicht gottgegebene Notwendigkeiten, sondern irdische Jammergesellschaften sind – wir brauchten uns nur zu besinnen.

Lebe wohl, Hans Paasche. Der Tod eines Menschen sei kein Wahlplakat. Aber du sollst nicht umsonst gefallen sein.


  • · Kurt Tucholsky
    Freiheit, 27.05.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 338-340.
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