In der Provinz

[327] Ich komme von einer kleinen Reise aus der deutschen Provinz zurück. Kennt ihr die deutsche Provinz?

Die Provinz, wo sie am dicksten ist, lebt von der Abneigung gegen Berlin und von seiner heimlichen Bewunderung. Sie schimpfen auf Berlin, soweit es politisch ist – und sie sehnen sich nach Berlin, soweit es sich um das Berlin handelt, das wir Berliner gar nicht so sehr schätzen: um das zwischen zehn und zwölf Uhr.

Die Revolution, oder das, was die Deutschen so nennen, gilt für die Provinz nicht. Sie gilt vor allem für Mitteldeutschland da nicht, wo die Arbeiter nicht das politische Übergewicht haben. Da regiert etwas anderes.

Da regiert der Bürger in seiner übelsten Gestalt. Da regiert der Offizier alten Stils. Da regiert der Beamte des alten Regimes. Und wie regieren sie!

Keine Erkenntnis hat sich da Bahn gebrochen. Kein Luftzug einer neuen Zeit weht da herein. Da ist alles noch beim alten. Da ist noch der Krieg verloren worden, weil die verräterische Heimat die edle Front erdolcht hat – als ob die Front nicht aus Deutschen, aus Söhnen dieser Heimat bestanden hätte! –, da wehen noch die schwarz-weiß-roten Fahnen im Wind, da herrscht im Grunde noch Wilhelm der Zweite und, wenn er einen gehabt hätte, sein Geist.

Es ist lustig und traurig zugleich, mitanzusehen, wie das in die Gehirne nicht hereingeht: Revolution? Umwälzung? Wandlung? Entwicklung? O ja, man ist liberal – heute nennt man das ja wohl ›demokratisch‹ – man ist liberal, so wie man ehemals liberal war und wünscht – mit Maß und Ziel freilich – eine langsame Wandlung . . . aber nur soweit sie dem Geldbeutel nicht weh tut. Man läßt auch wohl hier und da in besonders fortschrittlich gesinnten Kreisen beim Bier den Arbeiter einen guten Mann sein. Aber nur in manchen Kreisen. (Der Stammtisch ist sonst das Blutrünstigste, was es gibt – und jeder[327] gelernte Bolschewist würde errröten, wenn er hörte, mit welcher Unbedenklichkeit der Stammtischmann am liebsten Scheidemann und Crispien und Däumig und Ebert ›an die Wand stellen‹ lassen möchte.)

Wenns zum Klappen kommt, dann gilt der alte Trott.

Das ist ja das merkwürdige an diesem Lande – und auch Heine hat das schon gewußt, als er sagte, hier habe man mit der Denkkraft sogar den lieben Gott außer Kraft gesetzt, aber in Wahrheit regiere der Feldwebel mit seiner Knute – das ist das merkwürdige, daß alle diese Probleme und Theorien und all das, worüber wir uns den Kopf zerbrechen, in der Praxis von der handfesten Wurstigkeit stehen geblichener Dickköpfe ignoriert werden. Wenns zum Klappen kommt, regiert fast überall ein Mann, der durch Vorbildung, Erziehung und Familientradition gar nicht mehr anders kann, als Kastenunterschiede sehen.

Und es ist ihnen das so ins Fleisch übergegangen, daß sie sich alle – Richter und Verwaltungsbeamte und Kommunalbeamte und alle, alle – nicht mehr bewußt werden, daß sie instinktiv mit zweierlei Maß messen. Die gesamte Provinz schreit Mord und Zeter, daß man Handwerker und gar Arbeiter in die Verwaltungsposten gesetzt hat, ihrer Gesinnung wegen. Aber woher sollen wir die Leute nehmen? Hat nicht ein veraltetes System jahrhundertelang diese andern – um ihrer Gesinnung willen – ausgeschlossen von der Möglichkeit, die Bildung und das Können zu erwerben? Man konnte nicht Landrat werden, wenn der Papa einen offenen Laden hatte, und man konnte es nicht, wenn man demokratisch oder sozialdemokratisch war. Sie verhinderten es. Und wundern sich nun, wenn es keinen republikanischen und demokratischen Verwaltungsbeamten gibt.

Das hält zusammen wie die Kletten. Das liest nichts anderes als seine Zeitungen, die das drucken, was der Leser haben will und den Rest verschweigen. (Wie ja der Deutsche gemeinhin leider immer nur sein Parteiblatt liest. Er sollte mehrere lesen, um einen Überblick zu bekommen.) Das bildet eine eherne Mauer – und nirgends ist sie fester als in der Provinz.

Berlin hat gewiß seine Nachteile, seine schweren Nachteile – aber in politischer Beziehung ist es ein Paradies gegen die kleinen deutschen Mittelstädte, in denen keine große Industrie liegt. Da schlägt die Uhr noch 1890 – und will nicht vorwärtsgehen.

Von der ungeheuer schwierigen Lage unserer Parteigenossen in der Provinz macht sich nur der eine Vorstellung, der sie kennt. Der Arbeiter ist schon aufzuklären – weil er, wenn auch noch so dunkel, fühlt, daß da sein Heil liegt. Aber wie schwer haben sie es, sich durchzusetzen gegen die andern! Wie schwer ist das, gegen die unzähligen, unnennbaren Schikanen deutscher Verwaltungsbeamter anzukommen! (Und das können deutsche Verwaltungsbeamte: schikanieren! Darin sind sie ganz unbestechlich.) Der Kastenunfug blüht in diesen kleinen[328] Städten. Die Frau trägt den Titel des Mannes – obgleich doch selbst bei den Hühnern nur der Hahn seinen Kamm aufplustert und auf dem Mist Kikeriki schreit. Der Obersupernumerar steht turmhoch über dem Untersupernumerar, und jede kleine Gruppe hat ihre Spezialstandesehre, und jede hat ihre kleinen Extravorrechte, die ihr niemand rauben darf, und jede ist etwas ganz besonderes – und unter allen steht der Arbeiter.

Daher der ungeheure Abscheu vor Berlin. Berlin – das heißt: in mancher Hinsicht sind alle gleich. Berlin – das heißt: das Einkommen entscheidet nicht über den Wert, die Geburt nicht über die Tüchtigkeit des Charakters. Berlin – das heißt: Vorgesetztendämmerung. Sie hassen Berlin.

Und treiben die schwerste Obstruktion. Sie tuns in großem und tuns in kleinem. Sie sabotieren die Gesetze der Republik, wo sie können – für sie gilt das alles nicht. In einer großen Behörde in Hannover hängen noch die Kaiserbilder – es ist nicht möglich, sie herauszubekommen. Ists wirklich nicht möglich? Ich hätte sie in einem Vormittag draußen. Und wer einmal nach Rathenow zu kommen das Vergnügen hat, der sieht da die Husarenoffiziere in ihrer Friedensuniform herumlaufen, daß es eine Pracht ist, sie stehen mit ihren Lackbeinen auf dem Boden der gegebenen Tatsachen – sie sind glattes Parkett von Hofe her gewöhnt – und sie fahren noch in ihren alten Dienstwagen und genießen die alten Vorrechte . . . Für sie gilt das alles nicht. Hier war keine Kriegserkenntnis – hier war keine Revolution. Und wenn sie es waren: so nur, um sie abzulehnen.

Da, in den kleinen Mittelstädten, wo jeder, der nicht konservativ ist, als Bolschewist angerüpelt wird, – da ist Arbeitsfeld. Hier gilt es, unermüdlich und tagaus, tagein zu wirken. Ehre und Anerkennung jedem Parteigenossen, der hier seine Kraft ansetzt. Sein Wirken vollzieht sich nicht in der großen berliner Öffentlichkeit – er trägt keinen großen Namen davon und keinen Ruhm. Aber sein Wirken ist wertvoll für uns alle – nützlich und gar nicht zu entbehren. Diese Parteigenossen gilt es, zu unterstützen. Sie tun schwere Arbeit. Unter Tag.

In diese Städte scheint keine Sonne. In jeder steht der bürgerliche Ordnungsblock fest und treu zusammen, wenn es heißt: gegen den Fortschritt.

Ordnung . . . ? Darf ein System von Ordnung sprechen, das in vier Jahren ein Land in den Abgrund gebracht hat und so ruiniert, wie es der schlimmste Plakatbolschewismus niemals fertig bekommen hätte? Das in vier Jahren Millionen an Toten produziert hat und Millionen Krüppel hat herausgehen lassen, nicht ohne sie vor ihrer Verletzung an Leib und Seele ›ertüchtigt‹ zu haben? Ordnung . . . ?

Berlin hat eine große Aufgabe. Die Provinz hat eine größere. Da sitzen letzten Endes die Massen. Da heißt es: aufklären. Da heißt es[329] die Wahrheit über den Krieg sagen und über den Staat und über alle diese etwas heiklen Dinge, von denen ein anständiger Beamter nicht spricht.

Um Berlin ist mir nicht bange – so viel da auch noch zu tun bleibt. Aber unser Dank und unsere Hilfe gelte den Missionaren da draußen im schwarzen Erdteil – da draußen in der Provinz.


  • · Ignaz Wrobel
    Freiheit, 16.05.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 327-330.
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