Militärbilanz

[306] Im kapitalistischen Zeitalter erfüllt der Produzent nicht mehr die Bedürfnisse: er versucht, Bedürfnisse zu erregen, und ist stets geneigt, viel eher der Wirklichkeit als sich selbst die Existenzberechtigung abzusprechen. Schnell entschwindet wohl ein Bedürfnis; aber es dauert lange, ehe eine kapitalistische Institution zerfällt. Sie verteidigt sich und steht unerschütterlich – aus keinem andern Grunde, als weil sie nun einmal da ist.


Das preußische Heer, unter der ehemals armen Dynastie der Hohenzollern begründet, war die Stütze der Monarchie. Friedrich der Zweite konnte seine Offiziere (genau wie seine Beamten) nicht so bezahlen, daß nicht jeder Privatmann imstande gewesen wäre, sie ihm durch[306] Überbietung aus dem Staatsverbande herauszuholen. Was er ihnen an Gehalt nicht zu bieten vermochte, gab er ihnen an Geltung im Gesellschaftskörper: der Offizier (und in zweiter Reihe der höhere Staatsbeamte) war durch Machtspruch des Königs, der das damals noch durchzusetzen fähig war, der erste Mann nicht nur im Staate, sondern, was dem einzelnen mitunter wichtiger war, im gesellschaftlichen Leben. Titel und Rangordnung – von den Orden ganz zu schweigen – gaben in tausenderlei Äußerlichkeiten des täglichen Lebens den Ausschlag; der Offizier kam leichter als der Zivilist durch Torwache und Büroschwierigkeiten, er dominierte bei Damenwahl und bei Pferderennen, und gesellschaftliche Schranken nach oben hin waren für ihn kaum gezogen.

Was ursprünglich Mittel einer verarmten Dynastie gewesen war, wurde langsam Selbstzweck. Eine klassenbewußte Kaste stabilisierte, was sie immer getan, ihre eignen notwendigen Voraussetzungen wie Erzblöcke, die von Anfang an dagewesen und dem gesamten Menschengeschlecht eigentümlich seien. Das wurde Gesetz, Lebensregel und Weltfundament: die grausam kastenhafte und scharfe Trennung von Leuten in verschiedenen Ämtern, der unerschütterliche Glaube an die endgültige Richtigkeit einer behördlichen Beförderung, der Glaube, daß man überhaupt einen Menschen ›befördern‹ könne, also den Supernumerar Wartenburg in den Obersupernumerar Wartenburg und demzufolge in einen gänzlich neuen Menschen verwandeln könne – neben dem dienstlichen gab es kein privates, menschliches, geselliges Leben. Es gab nichts über den Kasten.

Ringsum demokratisierte sich eine Welt. Alt-Preußen blieb. Alt-Preußen blieb auch noch, als der Kapitalismus langsam und unaufhaltsam seine dünnen Saugfäden an diese alte Eiche legte. Der Französisch-Deutsche Krieg stellt so etwas wie einen Höhepunkt der friderizianischen Entwicklung dar, dann ging es rasch abwärts. Mit Neid sah der junkerliche Garde-Offizier, daß sein exmittierter Kamerad eine reiche Bürgerliche heiratete (die zwar noch nicht voll gesellschaftsfähig war) und glatt durchs Leben schwamm; unruhig und ärgerlich sah der östliche Großgrundbesitz, daß ihm im Westen des Reiches eine starke Konkurrenz beim Kampf um den Vorrang: in der Schwerindustrie, im Kaufmann entstand. Vom verächtlichen Spott über den Pfeffersack und ›Koofmich‹ bis zu einer widerwilligen Anerkennung war nicht weit; die Anbetung folgte, weil auf die Dauer wirtschaftliche Gesetze stärker sind als Klassenvorurteile.

Das alte friderizianische System war etwas Menschenunwürdiges gewesen; aber es hatte doch auch, einseitig und verbissen, einige Tugenden großgezüchtet.

Die Sünden waren größer. Der gemeine Mann im Heer galt gar nichts: seine Pflege ließ man sich nur angelegen sein, um brauchbares[307] Material für militärische Unternehmungen zu haben – daß er auch geistige oder gar menschliche Bedürfnisse habe, wurde hier und da in Anekdoten lächelnd vermerkt. Das Blätterdach dieses Giftbaumes überschattete ein ganzes Volk, als die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde: willig und gehorsam duckte sich die Nation unter das bunte Joch, umso williger, als man dem Teile der Bevölkerung, den die Behörden als gebildet abgestempelt hatten, das Allerschlimmste ersparte und ihm die Möglichkeit einer raschen Beförderung gab. Die Folgen waren fürchterlich: war bisher dem Bürgertum das Heer als ein teils lästiger, teils bewunderter Fremdkörper erschienen, so eignete man sich jetzt bis tief in die Familien hinein – besonders die Frauen wirkten kräftig mit – eine Anschauungsweise an, die in allen Dingen den äußern Erfolg über den innern stellte, die Titelbezeichnung verherrlichte und im übrigen den Vorrang nur dem gab, der ihn sichtbar auf den Kleidern trug. Niemand war nach einer Beförderung genötigt, seine moralische Kraft und Eignung zu ihr dauernd darzutun: er war einmal Oberstleutnant – und damit fertig. Schwer war es nicht, es zu sein – schwer war, es zu werden. Kein Mittel blieb da unbenutzt: konnte man sich Rang und entsprechend höheres Einkommen nur durch Servilität nach oben und Menschenverachtung nach unten hin erwerben, so tat man es; auch hätte man sich, preußisch eingeengt, in einer Weltordnung nicht mehr zurecht gefunden, die dem Betitelten gar keinen Schutz verlieh, die dem Mann überlassen hätte, sich seine Stellung täglich und stündlich im Leben neu zu erkämpfen. Es gab nur zweierlei: Sklaven und Sklavenhalter, Gefangene und Gefangenenwärter, Vorgesetzte und Untergebene. Wies die Vorgesetztenschaft auch vielerlei Abstufungen auf, so schied sich doch das ganze Volk deutlich in zwei Kasten: in Mannschaften und in Offiziere, und das galt auch für die Beamten. Eine Kluft, nicht zu überbrücken, eine Kluft, nicht zu überspringen. Das Gesicht, mit dem ein höherer Offizier das Essen seiner Leute probierte, war nur noch mit dem eines Schafzüchters zu vergleichen, der den grünen Klee durch seine Finger rinnen läßt. Das ging so weit, daß – im Frieden – ein fremder Offizier den deutschen Achselstückträgern näher stand als die eignen Muschkoten.

Demgegenüber also bestanden bis zum Eindringen des Kapitalismus in das friderizianische System unleugbar eine Reihe von Tugenden. Sie waren teuer erkauft, aber sie waren immerhin da. Unbedingter Gehorsam, Sparsamkeit, Unbestechlichkeit, Reinheit in der einmal adaptierten Gesinnung – das alles nicht durch den Intellekt hindurchgegangen, das alles bis zum Stumpfsinn übersteigert, ein meist hirnloses Spartanertum.

Die Gründerjahre räumten damit auf. Was übrig blieb, war etwas ganz Scheußliches. Das alte Ornament, die alte Vorstellungsform waren geblieben, der Inhalt völlig verändert. Der Inhalt: absolutes[308] Vorherrschen des Geldes, Karrierejagd des Gehaltes wegen, Militär als Zuflucht für Söhne repräsentativer Familien, die sich beim besten Willen zu nichts anderm eigneten, Menschenverachtung den eigenen Volksgenossen gegenüber, Landsknechttum in der Kollektivität, Individuen des neunzehnten Jahrhunderts im einzelnen. Die Form: die alten Embleme, die alten Ornamente, Sprachbilder aus der Zeit Huttens, kostümierte Kanoniere der faulen Grete, die eine Siebenzentimeter-Mörserbatterie bedienten – Landsknechttum der Kollektivität.

Der Krieg brachte die scheinbare Erfüllung dieser Welt. Sie jubelte auf, als er ausbrach, aber sie wußte nicht, daß dieser rauschende Marsch ihr Finale werden sollte. Es war wie in der Oper: Alle traten noch einmal auf, alle schrieen, Fanfarenbläser und Trommelwirbel . . . Der Vorhang fiel.


Die Revolution vom neunten November war keine. Dem unerhörten Mißbrauch einer absolutistischen Kommandogewalt folgte keinerlei Abrechnung. Offiziere und Beamte gingen straffrei aus. Sie waren einmal klein: am zehnten November. Sie hielten den Atem an. Nichts geschah. Aus Gummi, wie sie waren, schnellten sie alsbald wieder hoch, breiteten sich aus und waren überhaupt da. Das nunmehr regierende Bürgertum und die Sozialisten, die ihnen keineswegs – nicht an aalglattem Intellekt und nicht an Umgangsformen – gewachsen waren, ahnten die Gefahr nicht, vermeinten, man könnte sich eines Nessushemdes gegen die Kälte bedienen, und stützten das Militär und stützten die Offiziere. Unfähig, sich eine andre Ordnung als die der Bajonette vorzustellen, unfähig, durch die Uniform hindurchzusehen, wetteiferte Bürgerschaft und ein Teil irregeleiteter Sozialisten, die vollziehende politische Gewalt in die Hände der alten Offiziere zu legen. Die hatten sich der Regierung zur Verfügung gestellt – so nannten sie ihren Verrat an ihrem alten Eide; sie waren fast alle gesonnen, das ihnen geliehene Schwert gegen den Geber zu schärfen. Es ist Gesinnungslumperei, daß die Herren des alten Regimes vom neuen zu seiner Bekämpfung Geld nehmen. Die Regierung, die keinen Augenblick den Versuch gemacht hatte, den Eintritt einer neuen Geistesrichtung auch nur anzukündigen, versank den Militärs gegenüber in Lethargie, sie wurde gewarnt, hörte nicht, und am dreizehnten März 1920 traf sie ihr wohlverdientes Schicksal.

Mühsam zusammengerafft, von ehrlichen Demokraten die Krisis hindurch gehalten, befleißigt sie sich nunmehr derselben Gangart und wird unrettbar auf legalem Wege oder durch den Putsch wiederum überrannt werden. Aber dann mit Erfolg.

Ein paar Zusammenkünfte mit Regierungsmitgliedern und ihren Freunden haben mich überzeugt, daß diese Männer überhaupt keine[309] oppositionellen Zeitungen mehr lesen (es sei denn, um gegen sie einzuschreiten), daß sie jede Fühlung mit den unruhig quirlenden Massen verloren haben, und daß sie mit ganz andern als sachlichen Dingen beschäftigt sind. Es bewegt sie die Frage der Kompetenzen; es beschäftigt sie das Problem einer Stellenbesetzung, die Parteiklüngel und Beamtenschaft nicht vor den Kopf stößt; ein Apparat hält sie völlig gefangen, der um seiner selbst willen da ist, und bei dessen Schnurren keiner mehr nach Ziel und Zweck fragt. Die Menschenunkenntnis, die dabei entwickelt wird, ist stupend: kaum ist es dem ununterbrochenen Eifer der Opposition gelungen, einen gefährlichen Mann von seinem Posten zu drängen, so wird er drei Tage später auf einem entferntem wieder sichtbar. Wir blicken uns um und Stellen fest:

Die alten Abzeichen und Titel des kaiserlichen Heers sind erhalten (gleichgültig für einen Bürgerlichen, wichtig für einen Offizier, dem sie Symbol und Inhalt zugleich sind). Die Kadettenanstalten, Brutstätten einer menschenverachtenden Weltanschauung, sind geschlossen und werden als ›Reichsbildungsanstalten‹ im alten Geiste mit dem alten Personal neu eröffnet. Die machtlose Regierung traut sich nicht, gegen die Hochverräter des Kapp-Putsches einzuschreiten: die Führer, Ludendorff an der Spitze, sind entkommen, oder, wie Ehrhardt, in Freiheit. Am zweiundzwanzigsten März 1920 wagt ein Herr Krull, Angehöriger der hochverräterischen Eisernen Division, einem Steglitzer, in dessen Wohnung ein treugebliebener Unteroffizier wohnt, eine Drohung mit der Anzeige wegen Beihilfe zur Fahnenflucht ins Haus zu schicken. In Mecklenburg-Schwerin wird dem Oberst Lange, der gegen Lettow-Vorbeck treu zur Regierung stand, Schwierigkeit auf Schwierigkeit gemacht; die alten Generale, unsichere Kantonisten, sind im Amt und bleiben im Amt. Die besondere Zulage für die Hochverräter wird, laut einer Verfügung des Wehrkreiskommandos III vom neunzehnten März 1920, weiterbezahlt. Der verfassungstreue Soldat wird nicht wieder in die Reichswehr eingestellt; das Versprechen des Reichswehrministers, sie zu säubern, wird so erfüllt, daß man nach wie vor die Republikaner herausdrängt und die alten Offiziere beläßt. (In Mecklenburg: Generalmajor Weber, Generalmajor Ribbentrop, Major Sydow.) Trotz dem Einspruch des energischen und anständig gesinnten Zivilkommissars Grzesinski bleiben die Generale Schoeler und Loßberg in Kassel und im Amt. Oberst Wangenheim, ein Hochverräter, wird verhaftet und auf Veranlassung eines Kameraden wieder freigelassen. Regierungstreue und daher entlassene Soldaten des Pionierbataillons 15, Lager Zossen, dürfen ihr Lager nicht mehr betreten, weil der Kommandeur, Major von Sommerfeld, das nicht wünscht. Der Kaufmann Katz wird in Westfalen aus dem D-Zug heraus von Reichswehrsoldaten der Brigade Epp ohne Angabe von Gründen verhaftet. (»Herr Leutnant, hier ist ein Jud!«) Baltikumsoldaten überfallen in[310] Finkenkrug eine Hochzeit und beschießen ein Haus mit Maschinengewehren. Der Major von Engelbrechten aus dem Reichswehrinfanterieregiment 110 in Bremen verbietet den Beitritt zum Republikanischen Führerbund. In Ostpreußen sind sämtliche hochverräterischen Offiziere nach wie vor bei der Truppe. In Potsdam desgleichen (Major von Rohrscheidt, Major von Körner, General von Hülsen, Major von Hedderich). In Wilhelmshaven werden aufrührerische Offiziere, die man verhaftet hatte, wieder freigelassen, und zwar auf Grund einer Verfügung der trotz allem noch bestehenden Militärjustiz. In Kremmen verhaftet ein Kommando Reichswehrtruppen Arbeiterführer, mißhandelt sie auf das Schwerste und schleppt sie, an die Pferde gebunden, nach Neuruppin. Im Ruhrgebiet lechzt die Reichswehr nach Standgerichten und konstituiert sie, wo man sie ihnen nicht bewilligt, auf eigne Faust. Reorganisiert wird nur am grünen Tisch, im großen ganzen – für den einzelnen Hauptmann gilt das alles nicht. Der regiert, besonders in der Provinz, munter nach dem alten System weiter: er verbietet, verhaftet und läßt erschießen.

Der Beweggrund für die Übergriffe der Militärs gegen die eigne Bevölkerung ist nicht nur Grausamkeit. (Auch die: wer historische Belege für die traditionelle Brutalität des preußischen Militärs haben will, der lese die schauerlichen Einzelheiten von Mißhandlungen wehrloser Gefangener durch potsdamer Garde bei Johannes Scherr: ›Von Achtundvierzig bis Einundfünfzig‹.) Die Hauptbeweggründe sind wirtschaftlicher und moralischer Art. Der Offizier, im Kriege zum Stab kommandiert, als Etappenkommandant, als Verbindungs-, Eisenbahn- oder Nachrichten-Offizier ein Leben gewöhnt, das weit über seine Finanzkraft in der Vorkriegszeit ging, an ein Herrscherdasein gewöhnt, dem Soldaten, Zivilisten und ein ungeheurer Apparat nach Vornahme einiger Schiebungen, Formalitäten genannt, fast unbegrenzt zu Gebote standen: der, aus dem Kriege zurückgekehrt, haßte das Zivil, den Frieden und die Republik, die ihm, wie er glaubte, diesen Sturz besorgt hatte. Er hätte selbst bei Pensionszahlung in heutiger Konjunktur für sich und seine Familie wirtschaftlichen Ruin zu befürchten und erstrebte daher mit allen Mitteln, seine Existenz und damit seine Besoldung zu prolongieren und überhaupt als nötig zu erweisen. Er erfand sich den innern Feind.

So groß war der innere Feind in Deutschland nie, daß gegen ihn ein Ortsschutz von zwei Millionen mobilisiert werden mußte; dafür waren Waffen und Geld vorhanden, dafür Arbeitskraft und Organisation, und man male sich aus, welche Feuerwehr und welch vorzügliches Unfallwesen man für diese Beträge hätte haben können. An der Errichtung und an dem Bestand von Einwohnerwehren waren in erster Reihe frühere Offiziere und ihre Parteigänger interessiert; hier bezogen sie ihr Gehalt, und hier galten sie etwas. Denn dies ist der[311] zweite Beweggrund ihrer verderblichen Tätigkeit: sie sind, wenn sie im bürgerlichen Leben ihr Brot verdienen, mit geringen Ausnahmen nicht mehr als ein matter Durchschnitt, und sie schwellen zur alten Größe an, wenn man ihnen in Zeitfreiwilligen-Regimentern, in Einwohner- und Sicherheitswehren ihr Brot gibt. Das und nichts andres ist der Kern! Sie haben alle nur einen Feind: die Auflösung. Wie hat ein Kasernenkommandant in Potsdam, Major von Hedderich, gesagt? »Befürchtungen sind grundlos, da die Regierung uns gegen den Bolschewismus viel zu nötig braucht!« Befürchtungen . . . Und wenn nun der aktive Radikalismus der Straße bei besserer wirtschaftlicher Konjunktur ins Schwinden kommt, so werden sie sich, wie bisher, durch Provokation einen neuen innern Feind schaffen.

Die Einwirkung aller heute bestehenden militärischen Organisationen auf das Volk ist aber nicht nur nach außen ungünstig. Wie stehts denn mit den eignen Angehörigen? Hier herrscht noch der alte Kasernengeist, hier noch ein stumpfsinniger Hundegehorsam, hier noch Gewalt, Titelsucht und Wettklettern auf der Beförderungsleiter, Nach wie vor wird von der Republik das wilhelminische Eiserne Kreuz verliehen, nach wie vor werden durch Metallplättchen und Stickereien die niedrigsten Instinkte des Mannes wachgerufen. Psychologisch liegt die Sache so, daß der frühere Gefreite und Unteroffizier in der Sicherheitswehr nun einen langen Säbel tragen darf, das sein eigen nennt, was die Mädchen ›eine schmucke Uniform‹ nennen, und als Herr Wachtmeister angeredet wird. (Das ist der niedrigste Grad in dieser Organisation.) Das kitzelt ihn, wenn er das neue Leben mit seinem Hundedasein im Krieg vergleicht; die alte Mißachtung des Zivils ist wieder da, und all diese Leute, die zum großen Teil brav und anständig sind, kämpfen nicht so sehr gegen die Arbeiterschaft – von der sie politisch nicht viel wissen – wie um ihren Posten. Da, wo sie sich energisch demokratisch gegen den Offiziersgeist wehren, setzt man sie auf die Straße.

Ein Netz von militärischen Stellen breitet sich über das Land und leistet unproduktive Arbeit. Die Militärgebäude in der General-Pape-Straße zu Berlin weisen ein kleines Heerlager von Büros auf, die ihre Arbeit in sich verrichten: eine Lokomotive, die Holz sägt, mit dem sie geheizt wird. Es gibt eine ›Etappenkommandantur Döberitz‹, obgleich Döberitz gar nicht Etappe ist, und obgleich es dort überhaupt nichts zu kommandieren geben sollte. Es wimmelt von überflüssigen Offizieren. Jede Stelle ist unabkömmlich, jede Einrichtung muß erhalten bleiben, und wenn einmal die öffentliche Meinung oder gar das Parlament allzusehr Sturm läuft, so benennt man sie um, oder leitet sie über . . . Aufgelöst wird nichts. Entlassen wird keiner.

Eine wirkliche Gefahr für diesen Militarismus ist nicht etwa die Republik, Die unterstützt ihn im Schlaf. Eine Gefahr für ihn ist fremder Imperialismus: die Franzosen haben die Auflösung der Einwohnerwehren[312] zum zehnten April verlangt, man gab ihnen formell nach, nennt die Dinger jetzt Ortswehren, und es bleibt abzuwarten, ob sich die alliierten Kontrollkommissionen diese Täuschung werden gefallen lassen.

Der Deutsche bejaht die Uniform. Schaudernd besah er sich die Fotografien aus dem Ruhrgebiet: Arbeiter mit Waffen! Arbeiter militärisch organisiert! Wer aber die Söldner der Reichswehr vor ihrer Werbung gesehen hätte: er wäre vor ihnen genau so zurückgeprallt wie vor dem unkostümierten Proletarier. Ihn schreckt nicht so sehr die Waffe wie die Tatsache, daß ihm da die Leitung nicht grün ist. Und er beschönigt noch das häßlichste militärische Verbrechen, wenn es nur auf dem Dienstwege geschieht.

Und hier steckt die ungeheure moralische Gefahr des deutschen Militarismus. Er und nur er, er allein erkennt Ausnahmezustände über dem Rechte an. Er und nur er hat den Begriff der ›militärischen Notwendigkeiten‹ geschaffen. Was aber ist das für ein Rechtszustand, der jederzeit von jedem Leutnant durchbrochen werden kann! Ein Volk, bei dem das Recht, das objektive Recht, soweit es Menschen zu finden wissen, nicht obenan steht, fängt an zu faulen – Geschworene, die in politisch-militärischen Fragen urteilen, sind bei uns nicht mehr objektiv.

Sie wollen ihre Ausnahmestellung, sie wollen ihren frischen, fröhlichen Krieg, und sei es gegen Landsleute, sie verlangen von der Truppe Gehorsam, auch wenn sie von Verbrechern kommandiert wird, und sie haben das Wort von der ›Ruhe und Ordnung‹ erfunden, die immer dann einzusetzen hat, wenn man hinter dem Rücken des Volkes eine gewaltsame Verfassungsänderung durchsetzt. Woran der Kaiser gescheitert ist und scheitern mußte – sie verehrens noch heute und bekennen sich unumwundener dazu denn je: die Gewalt.


Hilfe? Von dieser Regierung nicht. Sie beschwert sich über die Aktionen der Gewerkschaften – der betrunkene Kapitän lehnt in der Ecke, ein beherzter Matrose ergreift das Steuer, und sein Vorgesetzter lallt: »Das ist eine Nebenregierung!« Der neue Reichswehrminister will die Reichswehr unpolitisch haben. Das ist falsch. Sie muß durch und durch politisch sein, und die Frage lautet nicht: Republik oder Monarchie – sondern sie lautet: Demokratie oder Gewaltherrschaft.

Auch diese Warnungen, auch dieses Tatsachenmaterial, auch diese Deduktionen werden nicht gehört, werden nicht beachtet werden. Der zweite Putsch kommt und muß kommen. Und dann glückt er. Und die neuen Gewaltherrscher werden dann nicht so töricht sein wie die matten Demokraten, die da vermeinen, mit papiernen Verfügungen sei etwas getan. Dem Reichswehrminister wird auch diesmal sein Apparat wichtiger sein als unsre Forderungen. Als Forderungen, die nicht aus Haß gegen die Offiziere, nicht aus Haß gegen den einzelnen Mann gestellt werden, sondern gegen eine Welt – eine Welt von Hirnlosigkeit,[313] Unmenschlichkeit und Kastenegoismus. Wir warnen wieder, der Reichswehrminister wird wieder schlafen, wir werden wieder die traurige Genugtuung haben, am Ende recht zu behalten. Es wird wieder nur zweierlei geben: Sklaven und Sklavenhalter, Gefangene und Gefangenenwärter, Vorgesetzte und Untergebene.

Dies aber sind unsre Forderungen:

Auflösung der Reichswehr, Bildung eines nach dem Artikel 160 des Friedensvertrages gestatteten Heeres von 100000 Mann, eine reine Polizeitruppe, unter dem Kommando von Demokraten. Sofortige Entlassung aller Offiziere, auf denen auch nur der Schatten eines monarchistischen Verdachts ruht. Genaue Befolgung des Artikels 177 des Friedensvertrages (»Erziehungsanstalten, Universitäten, Kriegervereine, Schützen-, Sport- oder Wander-Vereine dürfen sich mit keinerlei militärischen Dingen beschäftigen«). Aufhebung des § 2 des Gesetzes über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr. (»Die Reichswehr soll auf demokratischer Grundlage unter Zusammenfassung bereits bestehender Freiwilligenverbände . . . gebildet werden. Offiziere und Unteroffiziere aller Art und Beamtenpersonal des bestehenden Heeres sowie dessen Einrichtungen und Behörden können in die Reichswehr übernommen werden.«) Neuregelung des § 14 der Ausführungsordnung zum Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr. (Abwicklungsstellen.) Vollständige Auflösung der Einwohnerwehren. Neubildung von Ortswehren nur dann, wenn die polizeiliche Sicherung es erfordert, und nur unter paritätischer Mitwirkung aller Einwohner; das Kommando dieses Ortsschutzes liege in Händen von Zivilkommissaren, nie von aktiven Offizieren. Sofortiges Verbot weiterer Werbungen für noch vorhandene Freiwilligen-Verbände. Auflösung der Zeitfreiwilligen-Organisation. Sofortige Auflösung aller sogenannten Heeresabwicklungsstellen, soweit sie nicht in der Hauptsache Versorgungsansprüchen dienen. Vollständige Auflösung aller Sicherheitswehren, Gänzliche Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, die auch nicht in verschleierter Form oder etwa mit dem alten Personal erhalten bleibe.


So und nur so besteht die Möglichkeit, unsrer Staatswirtschaft Milliarden zu ersparen und einen Geist auszurotten, dem wir Krieg, Niederlage und Elend verdanken. Es ist nicht die Zeit, den sogenannten technischen Schwierigkeiten und den Einsprüchen interessierter Offiziere nachzugeben, es ist nicht die Zeit, auf die zu hören, die weniger am Heer als am Kommiß hängen – die Stunde drängt.

Schon fühlen anständige Offiziere, was hier vor sich geht; schon wird es in manchen Soldatenköpfen heller; schon bröckelt es. Setzt hier den Hebel an. Mit Todesurteilen ist nichts getan – mit radikaler Reorganisation alles. Hier liegt der Keim zu einer ganz großen Volksbewegung, hier das Zentrum der deutschen Geschicke. Hier hakt ein.[314] Hier arbeitet. Militarismus und Pazifismus sind zwei Geistesverfassungen – eine Brücke gibt es nicht. Entscheidet euch für den einen: und wir kommen nie aus der Not und dem Jammer heraus. Entscheidet euch für den andern, brecht mit der Tradition und macht Geschichte – und wir werden das haben, was wir ja wohl auf verschiedenen Wegen alle haben wollen: ein reines Land.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 22.04.1920, Nr. 17, S. 464.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 306-315.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristoteles

Physik

Physik

Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«

158 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon