Der Venuswagen

[77] Einen verschnittenen Bullen nennt man einen Ochsen.

Was aber die Staatsanwaltschaften des deutschen Landes betrifft, die alles, was unterhalb der Tischplatte liegt, konfiszieren, so gibt darüber ein ausgezeichnetes kleines Heft Auskunft, das im Verlag Paul Steegemann zu Hannover erschienen ist: ›Unsittliche Literatur und die deutsche Republik‹. Autor? Unbekannt.

Wenn ich manchmal, so ich überhaupt nicht einschlafen kann, zu diesem Behufe die alten Jahrgänge der ›Schau–‹ und der ›Weltbühne‹ durchblättre, dann merke ich, daß es wohl möglich wäre, unsre alten Aufsätze, die Glossen meines Freundes Wrobel, die Gedichte meines entfernten Bekannten Tiger – all das langsam der Reihe nach unverändert wieder abzudrucken. Es ist aktuell und bleibt aktuell. Der preußische Subalternbeamte, berliner Polizei, die Zensur, die Schule mit dem Oberlehrer, der sich heute Studienrat nennt, also den Titel, aber nicht die Röllchen gewechselt hat –: wie einst im königlich preußischen Mai – wie einst im Mai . . . Auch das Verhalten der Richter und Staatsanwälte gegen Produkte der Kunst oder kunstähnliche Erzeugnisse – es hat sich nicht gewandelt.

Das kleine Heft gibt einen ausgezeichneten, ruhig und sachlich geschriebenen historischen Aufriß der erotischen Literatur und endet mit einer gradezu vernichtenden Kritik der deutschen Gerichtspraxis. Mit Recht. Ich muß sagen, daß es ein würdeloser Zustand ist, wenn für Bilder von Corinth oder Zille, für gute Romane, die das immerhin nicht ganz unwichtige Thema der Erotik straff und scharf behandeln – daß für solche Publikationen von der Verteidigung jedes Mal ein Heer von Sachverständigen aufgeboten wird, das gewöhnlich von dem besserwissenden Gericht geringschätzig abgelehnt wird. Dafür haben sie ihren Brunner. (Gekündigt wird in Deutschland niemand. Daß solch ein Beamter mäßigsten Stils noch an verantwortlicher Stelle arbeiten darf, ist ein sachlicher Fehlgriff der vorgesetzten Dienststelle. Will man ihn aus Prestigegründen halten? Das ist nicht nötig. Er hat keines mehr zu verlieren.) Es ist hundertmal nachgewiesen worden, daß weite Volkskreise – und durchaus nicht die schlechtesten – auf diese unzüchtigen Staatsanwälte, hopla, diese unzüchtigen Werke anders reagieren als die Gerichte. Der Begriff ›unzüchtig‹ ist kein absoluter, und die Herren dürfen nicht denken, daß ihre Erziehung, die das Wirtshaus von der Lahn am Kneiptisch hochleben und eine echte Schilderung einer proletarischen Hurenbude verabscheuen läßt – daß diese Erziehung für irgend jemand anders maßgebend ist als für einen gewissen Mittelstand, dem die Staatspension ein fundamentum ist. Was unter und über diesem Beamtenstand eines kleinen Bürgertums lebt, beurteilt die Dinge ganz anders. Es führt ja zu nichts,[77] hier – immer mal wieder – auseinanderzusetzen, wie falsch, philosophisch, ethnographisch und ethisch gesehen, diese gradezu widerwärtige Kunstbeurteilung der deutschen Gerichte ist, die auf alles Geschlechtliche mit einer Gereiztheit reagiert, daß einem der Gedanke kommen muß, es liege dahinter noch andres als nur das Empfinden von Eunuchen verborgen. Liegt auch.

Ich werde das Gefühl nicht los, daß die Ungebundenheit, die doch nun einmal das Kennzeichen jeder wirklichen Erotik und Sexualität ist, den Herren von der Firma ›Ruhe & Ordnung‹ ein Dorn im Auge ist. Der geordnete Bordellbetrieb einer gemischten Halbbrigade in einem Ort des besetzten Gebietes hatte für sie nichts Anstößiges – die freie Zuchtwahl, die freie Selbstbestimmung über den Körper des Einzelnen durchaus. Zu Häupten des zeugenden Staatsbürgers stehe, grün oder blau, ein Schutzmann: Sinnbild des allmächtigen Staates.

Es gibt sicherlich Werke, die das Schamgefühl verletzen. Es fragt sich, wo sie ausliegen, und für wen sie bestimmt sind. Ein absoluter Maßstab existiert nicht. (Und der behördliche ist der letzte an Wert.) Die überhebliche Art der deutschen Verwaltungsbehörden, die sehr unangenehme Strategie der Gerichte, in Zweifelsfällen das objektive Verfahren einzuleiten und nur das Buch zu beschlagnahmen und unbrauchbar machen zu lassen, ohne den Autor anzurühren, die freche Beleidigung, die darin steckt, ›Mit Rute und Peitsche durch ungarische Mädchenpensionate‹ kulturell und künstlerisch wichtigen Novellenbänden gleich zu stellen: das ist mein Deutschland, das Land der §§!

Wir werden uns von keinem Staatsanwalt verbieten lassen, zu lesen, was uns behagt. Zum Glück reicht der Arm der Gschamigen nicht bis zu unsrer Bibliothek, und ich habe mir bisher immer noch all das verschafft, was ich zu sehen begehrte. Die Volksvergiftung aber liegt da, wo man das ›Rohe‹ mit duftigen Spitzen umhüllt, wo man ›fein‹, ja gradezu ›französisch‹ umschreibt, was man auszusprechen zu schwach ist. Denn um eine Hure so reden zu lassen, wie es ihr gewachsen ist – dazu gehört die größte künstlerische Intensität.

Mein Name ist Chider. Und abermals in fünfhundert Jahren komm ich desselben Wegs gefahren . . . Und dann wird immer noch eine geistesschwache Rechtsprechung dastehen und Pornographie, Kunst und grazile Unterhaltung in einen Topf werfen und nicht fühlen, wie ihre widerwärtigen Auslegungen des § 175, dessen reichsgerichtliche Kommentare wohl das Ekelhafteste darstellen, das sich die Phantasie ausmalen kann, wirklich unzüchtig sind und das Schamgefühl gröblich verletzen.

Und wie man die Sittlichkeit – ein Wort, das sich allenfalls noch für einen Coupletrefrain eignet – jedes Mal dann hervorholt, wenn man sich mit Menschen gezankt hat und nun, aufschreiend, bemerkt, was man jahrelang hingehen ließ, wie man Gerichte ihre tintigen[78] Finger in die Bett-Tücher senken läßt, so maßt sich hier – der Staat ein Recht an, das ihm nicht zusteht.

Selbstzweck geworden, versklavt diese Gewaltorganisation, über die man hinauskommen muß, weil sie nicht das Letzte ist, den Menschen. Solche Unsittlichkeit fällt selbst unter den § 184.

Kostet dieser Aufsatz einem Landgerichtsdirektor die Pension? Braucht sich auch nur einer danach zu richten? Können wir ihm in der Karriere, in der Geltung beim Apparat, unter den Kollegen schaden? Nein. Also bleibt alles beim Alten.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 03.11.1921, Nr. 44, S. 460.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 77-79.
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