Bürgerliches Zeitalter

[160] Ach, Muse, pack die rote Fahne ein!

Und roll sie säuberlich zusammen.

Die alten Ideale tu darein –

die können keinen mehr entflammen.

Die Barrikade und der Aufruhrschrei:

das ist vorbei.


Die Internationalen prügeln sich.

Ums Marx-Bild flicht die Immortellen.

Revolutionen werden bürgerlich,

der Geist fuhr in die Lohntabellen.

Es kloppen viele fürs Proletariat

den Danton-Skat.[160]


Und während mild sich kabbeln die Partein

und Weltreformer teutsch und indisch quarren:

schluckt ein Kartell den ganzen Laden ein

und lächelt über hunderttausend Narren.

Dem Staate bleibt ein Pleitemonopol

und das Symbol.


Pust, großer Heros, deine Fackel aus!

Die Zeit braucht keine Helden – nur Beamte.

Verkriech dich in dein Mietskasernenhaus,

zu dem dich Gott (und ein Konzern) verdammte.

In Überlebensgröße schreiten

hoch über uns die Mittelmäßigkeiten . . .

Chronos, zurück! Mit deinen Horenschwestern!

Der Stil von morgen ist der Stil von gestern.

Adieu, adieu – Geist, Weimar und Idol!

Lebt wohl! Lebt wohl.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 30.03.1922, Nr. 13, S. 332.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 160-161.
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