Die Mühle

[280] Für Gussy Holl


Zum erhabenen Brahma

betet jeder Lama

weit in Tibet ein Gebet.

Sitzt da im Gestühle

und dreht an einer Mühle,

die zum Beten vor ihm steht.

Uralt Wort vom Priestertum:

»Om – mani – padme – hum!«


Hier bei uns zu Lande

am unsichtbaren Bande

jeder solche Mühle schleppt.

Mancher will nur beten

zu den Papiermoneten,

bis ihn die Devise neppt.

Stets zählt er sein Eigentum . . .

Om – mani – padme – hum!


Mancher sieht nur Weiber

Brüste nur und Leiber –

keine, keine läßt ihn still.

Taumelt durch die Nächte,

daß er die Frauen schwächte,

weil die Mühle es so will.

Der kennt nur ein Heiligtum . . .

Om – mani – padme – hum –


Mancher stelzt wie'n Gockel

und klemmt sich das Monokel[280]

ein – und betet nur zum Heer.

Will den Kerls was pfeifen

und seine Deutschen schleifen

und wünscht sich einen Weltkrieg her.

»Nieder mit dem Judentum!

Om – mani – padme – hum!«


Also drehn verdrossen

alle Zeitgenossen

immer ihre Mühle rum.

Jeder hat die seine,

und jeder dreht nur eine

Walze lebenslänglich um.

Was sind Schönheit, Geld und Ruhm –?

Om – mani – padme – hum.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 07.09.1922, Nr. 36, S. 262.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 280-281.
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