Eine neue Wehrpflicht?

[198] »Schopenhauer! Brust raus! Bauch rein! Einstein, Sie verdammter Judenlümmel! Wir sind hier nicht auf der Sternwarte! Sie scheinen nicht zu wissen, wo Sie sich befinden! Sie sind hier auf der Universität!«


Die berliner Studenten bekommen augenblicklich – zusammen mit ihrem Testierbuch für die Vorlesungen – ein Heft ausgehändigt, das genau so aussieht wie jenes, und auf dem zu lesen steht: Leistungsbuch.

Schlägt man es auf, so enthält es eine Aufforderung, Leibesübungen zu treiben, und es wird da bedauert, daß dem deutschen Volke die Wehrpflicht genommen ist. Es enthält ferner ›Leitsätze‹ und ›Prüfungsbestimmungen‹. Ich zitiere:


Leitsätze:

§ 3: Jeder Studierende ist verpflichtet, während seiner Studienzeit Leibesübungen zu machen.

§5: Innerhalb der ersten beiden . . . Studienjahre hat jeder Studierende zwei Leistungsprüfungen . . . abzulegen.

§ 10: Jede Hochschule stellt hauptamtlich Turn- und Sportlehrer an.

§ 11: Kein Studierender kann aus andern, als aus Gründen körperlicher Untauglichkeit von der Teilnahme an den Leibesübungen befreit werden.

§ 13: Kein Studierender darf zur Ablegung einer staatlichen oder akademischen Abschlußprüfung zugelassen werden, der nicht zwei[198] der in §7 bezeichneten Bescheinigungen (nämlich über erfolgreich bestandene Sportprüfungen) beibringt.


Diese ›Leitsätze‹ sind zunächst eine Fälschung. Denn sie geben sich so, als seien sie bereits Gesetz – auf jeden, der das Buch unbefangen aufschlägt, müssen sie so wirken. Das sind sie nicht (noch nicht): ganz klein gedruckt findet sich der Vermerk: »Angenommen durch den 3. deutschen Studententag zu Göttingen 1920.« Das ist also noch kein Zwang.

Die ›Prüfungsbestimmungen‹ setzen die Unehrlichkeit fort.


§ 1: Der 4. deutsche Studententag zu Erlangen 1921 hat die unverzügliche Durchführung von Leistungsprüfungen gemäß den Leitsätzen 1 – 12 des 3. deutschen Studententages allen deutschen Studentenschaften unabhängig von einer gesetzlichen Regelung durch Reichs- und Landesbehörden zur Pflicht gemacht.

§ 2: Den Verpflichtungen unterliegen alle vom Wintersemester 1921/22 ab erstmalig immatrikulierten Studenten.


Fragt der neue berliner Student den austeilenden Universitäts-Beamten, ob er üben müsse, so antwortet man ihm: »Es wird gewünscht.« Also lügt das Buch und versucht einzuschüchtern.


Was hier vorliegt, ist dieses:

Hier wird hinterrücks – unter Ausschaltung des Friedensvertrages, der Reichsgesetz ist, und unter Ausschaltung aller gesetzgebenden Faktoren – eine neue Wehrpflicht einzuführen versucht. Jedes Ableugnen ist zwecklos.

Bei der Gesinnung der meisten Professoren ist es schon fraglich, ob in drei Jahren, wenn die ersten Universitätssoldaten ins Examen steigen, nicht der von vornherein eine schlechtere Nummer hat, der nicht geübt hat. Geht das so weiter, dann sind diese Zwangsbestimmungen in ein paar Jahren Vorschrift – und dann haben wir eine neue Wehrpflicht.

Noch sind die vorgeschriebenen Übungen ganz harmlos. Aber da sollen sich schon neue ›beamtete Sportlehrer‹ heranbilden, und wie das aussieht, wenn diese Deutschen die Macht haben, über einen andern, der ja dann des Examens wegen gänzlich von ihnen abhängig sein wird, zu gebieten – das wissen wir wohl noch alle vom Militär her. Eine Kleinigkeit, die Übungen zu erweitern. Eine Kleinigkeit, zuerst das Fechten, dann das Zielen, dann das Schießen mit aufzunehmen (Gepäckmarsch ist schon darin). Eine Kleinigkeit, weitere Übungen auch in den späteren Jahren anzuordnen, denn der Staat hat die meisten Studenten auch noch dann in der Hand, wenn sie die Universität längst verlassen haben. (Referendare, Medizinalpraktikanten usw.) Wir stehen fünf Minuten vor einer neuen Wehrpflicht.

[199] »Es werden in naher Zukunft an allen Universitäten zwei vorlesungsfreie Nachmittage zum Zwecke der Körperkultur eingeführt werden, so daß allen die Möglichkeit gegeben ist, die nötigen Kräfte zum Daseinskampf zu sammeln.« Der ›Daseinskampf‹ dürfte später in den Ackergräben zu Ende gefochten werden – und was die ›Körperkultur‹ anlangt, so erinnert sich vielleicht noch mancher, wie ihm sein Unteroffizier ins Kreuz getreten hat.


In einer nationalistischen Monatsschrift stellt Herr Immanuel, ein früherer Oberst, fest: ›Die Wehrhaftigkeit als Grundbedingung unseres Wiederaufstiegs‹. Da lesen wir von dem alten kaiserlichen Heer, dieser Pflanzschule des borniertesten Kastengeistes und der ekelhaftesten Unterordnung, die die Welt gesehen hat: »Die Wehrpflicht überbrückte die Gegensätze der Volksschichten und machte sie gleich vor den Pflichten gegen den Staat.« (Daher mag es wohl kommen, daß Offiziere und Mannschaften, ›Herren‹ und ›Kerls‹, beim Essen und auf den stillen Örtlichkeiten – ja, noch im Grabe streng voneinander geschieden waren . . . ) Da spricht der Herr Immanuel, der Angehörige eines Volkes, das Kant, den Verfasser der Schrift ›Vom ewigen Frieden‹ hervorgebracht hat – von den »Schwarmgeistern des Pazifismus« und stellt angesichts der »sogenannten Siegerstaaten« fest: »Somit ist der Kriegsgedanke zurzeit Wahnsinn.« Zur Zeit.

Und fordert auf denselben Blättern einen Ersatz des verlorenen allgemeinen Wehrzwanges, damit jeder körperliche Übungen treiben muß; auch hier wieder finden sich die merkwürdigen ›staatlichen Turnlehrer‹; er lobt die Kriegervereine und ist im großen ganzen – fest und treu – für eine Wehrpflicht hintenherum. »Wir müssen im stillen, fest und treu, an der Erhaltung der Wahrhaftigkeit arbeiten.« Im stillen –: das heißt: ungesetzlich.


Nichts kann an der Tatsache rütteln, daß hier gerüstet wird. Die Entente ist auf einer ganz falschen Fährte, wenn sie sich nur die Polizei und ein paar Waffenfunde ansieht. Es liegt viel Gefährlicheres vor. Gefährlich für uns und unsere Kinder und für den Weltfrieden. Ein großer Teil Deutschlands will den Frieden, die Arbeit und die Ruhe. Von oben herab aber wird gerüstet.

Der Zusammenhang zwischen den Wehrpflichtbestrebungen der Universitäten und dem sehr mysteriösen ›Reichsausschuß für Leibesübungen‹ ist nicht geklärt. Alle diese Institutionen arbeiten zum Teil inoffiziell mit- und ineinander und streiten das selbstverständlich stets ab, – wie es überhaupt kein kläglicheres Schauspiel gibt, als die Haltung der Mannen, wenn sie gekappt werden: dann lügen sie, daß sich die Balken biegen, und wissen von nichts.

Es tut einem in der Seele weh, daß man in einem Lande, dessen Bewohner[200] derart von der Tuberkulose heimgesucht werden, etwas gegen den Sport sagen muß. Aber sie meinen gar nicht den Sport und wir auch nicht.

Was wir bekämpfen, ist der einwandfrei klar zu Tage liegende, gefährliche und außerordentlich wichtige Versuch, wiederum Unruhe ins Volk zu tragen, wiederum die Leute für ein Massenmorden zu präparieren und wiederum die Grundstimmung für eine Massenbetrunkenheit wie 1914 zu schaffen. Die Universitäten – also die wichtigsten Posteninhaber – vornean.

Kein Politiker – kein deutscher und kein ausländischer – sollte sich einlullen lassen. Was hier getrieben wird, ist kein Sport. Was hier entsteht, ist eine neue Wehrpflicht.


  • · Ignaz Wrobel
    Republikanische Presse, 22.06.1922.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 198-201.
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