Neujahrsgruß

an die Geistigen Deutschlands

[119] Blickt her!

Ihr kamt ins leise Gleiten –

die alte Zeit, sie winkt und winkt . . .

Ihr dürft euch über Stile streiten,

indes ihr immer tiefer sinkt.


Im Schrank hängt noch ein guter Sakko,

im Bord steht noch ein Lederband.[119]

Einst saht ihr noch die Sadda Yacco,

ihr wußtet, wo Mentone stand.


Und immer kleiner wird die Wohnung,

und immer kleiner wird der Kreis.

Uns alle fleddert ohne Schonung

des Unternehmers Hungerpreis.


Wann habt ihr aus den stickigen Lüften

zum letzen Male ausgespäht?

Was wissen wir von fremden Düften,

von dem, was draußen vor sich geht?


Kommiß. Kommiß. Und Bürokraten.

Er hats geschafft, der Militär:

Vom Volk der Denker und Soldaten

nimmt keiner einen Knochen mehr.


Ihr repetiert die alten Lieder

zum Überdruß. Die Muse schielt.

Ein sanfter Balkan senkt sich nieder,

in dem ihr keine Rolle spielt.


Der starke Händler sitzt am Ruder,

die Finger dick, den Nacken feist.

Du bist ein, bleibst ein armes Luder,

auch wenn du hübsch zu schreiben weißt.


Und Frauen, Blumen, Weltenräume,

sie blühn für den, der stärker war.

Schlag, Künstler, deine Purzelbäume!

Du bist nicht mehr. Es fliehn die Träume . . .

In diesem Sinn:

Ein frohes Jahr –!


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 05.01.1922, Nr. 1, S. 23.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 119-120.
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