Die Nachgemachten

[315] Sie glauben gar nicht, wie natürlich meine künstlich nachgemachten Haarfrisuren aussehen!

Berliner Schaufensterinschrift


Es sieht alles ganz natürlich aus. Die reichen Leute fahren in ihren Automobilen herum, sie bekommen eiskalten Sekt und siedendheiße Bouillon mit Mark, temperierten Rotwein und Frauen aller Wärmegrade. Sie beschenken sich zu Weihnachten, zu den Geburtstagen, und wenn sie von einem anderen etwas wollen. Sie führen das Leben, nach dem sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt haben.

Aber es stimmt etwas nicht mit ihnen. Es fehlt ihnen irgend etwas. Besonders die fühlen es, die auch schon früher nicht ganz arm gewesen sind. Mit diesem ganzen Juchhei ist irgend etwas nicht in Ordnung. Echt mag die Lebensfreude sein. Aber sie ist nicht original. Sie ist nachgemacht.

Noch nie ist in Europa der Gegensatz zwischen oben und unten so hart und scharf gewesen wie heute. Man geht sich aus dem Wege. Man ist sich nicht grün. Man verachtet sich. Ja, es soll vorkommen: daß man sich haßt.

Wir stehen nicht am Gitter und erzählen uns, wie sauer denen da drinnen die Trauben schmecken, die uns unerreichbar sind. Aber uns kann niemand etwas erzählen: es sind nicht unsere alten Friedenstrauben. Es sind nachgemachte.

Es ist alles so:

Die Reichen – und besonders die Reichgewordnen – spielen für ihr Geld Frieden. Sie haben früher so lange Jahre das da gesehen (und sie haben es nicht haben können) – und nun wollen sie auch einmal. Und kaufen sich die alten Ideale. Ja, sie sind noch sehr schön . . .

Aber es sind nicht die alten. Es sind nicht die alten, weil man die Luft nicht kaufen kann, in der sie einmal gediehen sind; weil man[315] die Lebenssphäre nicht kaufen kann, die jene hervorgebracht hat. Es sind hastige Erfüllungen hastiger Menschen, und ich muß immer an einen hübschen Ausdruck denken, den mir einmal eine Französin in ihrem lustigen Kullerdeutsch sagte: »Das?« sagte sie und zeigte auf eine junge Person, die da vor uns herumtanzte. »Das ist eine schnelle Frau!« – Auch dies sind schnelle Freuden.

Angefertigt nach altem Rezept, fabriziert nach alten Vorlagen, hergestellt nach den alten Mustern. Sie sind nicht in dem Tal geboren . . . War es nicht früher sehr lustig, in Premieren zu gehen? Na, gehen wir doch zu den Premieren – jetzt können wir es uns ja leisten! Machte man nicht früher, wenn man vergnügt sein wollte, Fahrten ins Grüne? Hans, kurbeln Sie den Wagen an – wir fahren ins Grüne –!

Ach, es ist das alte Grüne nicht mehr. Die Bäume sehen aus, als wüßten sie, wie das Holz inzwischen im Preise gestiegen ist, die Blumen blühen freibleibend, und mit den Kühen ist überhaupt nicht mehr zu reden; niemand traut sich ›du‹ zu ihnen zu sagen, seit sie solche Wertobjekte geworden sind. Vorbei, vorbei –

Und wenn ihr mit goldenen Zungen redet und hättet der Liebe nicht . . . ! »Geld allein macht nicht glücklich, man muß es auch haben!« sagt ein altes Wort, Nein, man muß auch eine Welt haben, in der man ohne Scham glücklich sein kann.

Man mußte wohl immer einige Abstraktionen beiseite tun, wenn man glücklich war – und jeder Glückliche ist ein Egoist, der der Traurigen vergißt. Aber es ist heute schwer, sie nicht zu vergessen. Man stolpert über sie.

Denken Sie, ich saß neulich allein im Auto meines Freundes Jannings, wissen Sie, des großen Filmschauspielers – und Sie können sich nicht denken, wie böse mich alle Leute auf der Straße angeguckt haben. Zugegeben: ich bin ein wenig dick . . . Aber ich hätte am liebsten ein Fähnchen aus dem Wagen herausgestreckt: »Bitte! Ich bin es gar nicht! Ich kann nichts dafür! Ich gehöre zu euch!« – Ich denke es mir nicht schön, immer so angeguckt zu werden . . .

Fühlt man sich doppelt warm, wenn es draußen schneit und windet? Ja, vielleicht. Aber fühlt man sich auch doppelt wohl, wenn draußen Leute leiden?

Sie bauen sich alte Freuden auf, die heute keinen rechten Sinn mehr haben. Die deshalb keinen Sinn mehr haben, weil zu jedem Karneval eine glückliche Menge gehört – ja, weil sie erst die Lust ausmacht, in der damals eine ganze Stadt tanzen konnte.

Vielleicht ist das große Leid die Würze zum Vergnügen dieser anderen. Der Schmerz der Armen ist ein Pfeffer für die Reichen. Ein Weinen klingt unter der Erde, aber sie tanzen.

[316] Entschuldigen Sie bitte, wenn ich im Gewühl der Zahlen Ihres Kurszettels ganz leise sagen möchte: »Das ist kein schönes Vergnügen. Es ist doch nur – ein nachgemachtes.«


  • · Peter Panter
    8-Uhr Abendblatt, 21.03.1923.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 315-317.
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