Das konservative Paris

[455] Wegen Renovierung geschlossen.

Berliner Schaufensterplakat


Paris ist eine alte Stadt. Paris ist eine neue Stadt. Aber sie ist nicht neu lackiert, und sie ist auch kein Museum. Sie ist aber konservativ.

In Frankreich hat kein wichtiges historisches Ereignis stattgefunden, das nicht von Paris ausgegangen oder in Paris beendet worden wäre. Diese Stadt hat alles schon gehabt, und nichts kann sie mehr in Erstaunen setzen. Nun gibt es nicht mehr von allen den alten Ereignissen Zeugen aus Stein oder Erz – aber durch die Jahrhunderte, in Bauweise, Hausanordnung und Parkanpflanzung hat sich etwas erhalten, eine Tradition, ein Konservatismus, eine geschichtliche Überlieferung.

In den Vorstädten ist sie nicht – das fühlt man sofort. Das sind entweder sehr hübsche Villenansiedlungen oder nette kleine Viertel, wie Passy, die teils einen beinahe kleinstädtischen Charakter haben oder als typischer westlicher Vorort in mancher europäischen Kapitale liegen könnten. Oder es sind Arbeiterviertel, gewiß mit einem eigenen Charakter, aber das, was man in Paris selbst fühlt, das wird man da vergeblich suchen.

Es hat immer zwei Paris gegeben: die Weltstadt, die repräsentierte, und das französische Paris für die Franzosen. Räumlich ist das nie[455] scharf getrennt gewesen, diese beiden Elemente gehen ineinander über, verwischen sich, durchdringen sich . . . Und das Leben wandert in der Stadt, ununterbrochen ist es in den Jahrhunderten gewandert.

Einmal war es die Gegend um den Jardin du Luxembourg, die als die vornehmste galt, einmal die ums Palais Royal – einmal wohnten alle feinen Leute nur an den Champs Elysées – und jetzt wieder mehr um den Etoile herum – einmal war jenes Viertel verrufen, einmal dieses – einmal hat sich die Stadt nach dem Osten erweitert (zum Beispiel unter Ludwig XIII.) – und einmal nach dem Westen (so das letztemal unter dem zweiten Kaiserreich). Immer aber ist etwas Merkwürdiges gewesen: alle diese historischen Vorgänge haben Schichten auf dem pariser Boden abgelagert, es sind Spuren zurückgeblieben, manche heute noch sichtbar, manche nur in der Straßenkonstruktion feststellbar, und alle zusammen ergeben eben eine feste Tradition.

Dabei ist das meiste nicht so alt, wie man denkt. In den allermeisten Fällen ist kaum ein Stein auf dem andern geblieben, die Straßennamen haben oft genug gewechselt, und es gibt alte pariser Stadtpläne, in schwarzer Farbe, auf die das neue Kartenbild rot aufgedruckt ist – kaum ein Umriß deckt sich da, kaum ein Straßenzug; wo ein Häuserblock war, liegt heute ein freier Platz, und wo einstmals ein Park stand, erhebt sich heute ein Bürohaus. Ganz große Linien sind mitunter geblieben – aber das sind doch Ausnahmen. Was älter ist als 250 Jahre, steht angestaunt wie ein Museum in der Stadt.

Nein, nicht wie ein Museum. Denn das ist das Reizvolle, das Unerfindliche, das Einmalige an dieser Stadt, daß die nächste Generation es immer wieder verstanden hat, wirklich weiterzubauen, nicht einfach niederzureißen und sich an die Stelle des Alten zu setzen, sondern das Vorhandene zu benutzen. (Es gibt auch böse Kleckse im Stadtbild: so ist zum Beispiel die entzückende Place Dauphine auf der Ile de la Cité durch eine gradezu wilhelminische Treppenscheußlichkeit des Palais de Justice so ruiniert, daß man das Plätzchen, das da so still inmitten des Autogebrauses liegt, nur mit dem Rücken zu dieser Herrlichkeit genießen kann.) Aber in fast allen andern Fällen, die mir bekannt sind, schließen sich die Jahrhunderte, was den Stadtbau angeht, lückenlos aneinander an.

Dabei bauen die Pariser nicht einmal in ›historischen‹ Stilen, und ein Architektur-Karneval wie der um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, wo plötzlich alles das romanische Nesselfieber bekommen hat, wäre in Paris undenkbar. Sie bauen neben die historischen Kirchen, neben die geschichtlichsten Paläste ruhig und bescheiden ihre neuen Häuser, und die sind fast immer so nett, so unaufdringlich, so ganz dem Zweck dienstbar gemacht, für den sie da sind, daß fast niemals etwas passiert. Die Stadt erneuert sich, aus sich heraus – aber sie hat nicht diese fatale, melancholisch stimmende Neuheit, die schon Heine[456] aus Berlin so beschreibt: »Es sind wahrlich mehrere Flaschen Poesie dazu nötig, wenn man in Berlin etwas andres sehen will als tote Häuser und Berliner. Die Stadt enthält so wenig Altertümlichkeit und ist so neu; und doch ist dieses Neue schon so alt, so welk und abgestorben. Denn sie ist größtenteils, wie gesagt, nicht aus der Gesinnung der Masse, sondern einzelner entstanden.« Das Nähere über den neuen Berliner Westen hat dann Georg Hermann im ›Kubinke‹ gesagt.

Nein, das gibt es hier nicht. Nun glaube ich, ganz abgesehen vom Rassenunterschied, vom Unterschied des Himmelsstriches, der Geschichte und der wirtschaftlichen Verhältnisse, etwas herausgefunden zu haben, das vieles erklärt: der Pariser hat nicht die Krankheit der Renovierungssucht. Wenn in Berlin – und wohl überhaupt in Deutschland – einer eine städtische Bauaufgabe zu lösen hat, dann reißt er erst mal ›den ganzen Zinnober‹ runter. Jetzt wird er mal zeigen, was er kann! Das ist bei Lokalen so, weshalb Berlin (außer Lutter & Wegner, das nun auch verschwinden soll) kaum noch ein Lokal hat, das diesen Flair besitzt, die ihm eigene Atmosphäre, die sich erst nach Generationen ablagert; – es ist, als ob dann alle die vielen Menschen, die da einmal gesessen haben, etwas an den Mauern zurückgelassen hätten . . . Dem begegnet man hier auf Schritt und Tritt.

Damit wir uns recht verstehen: ich meine nun nicht diese falsche Romantik, auf die allenfalls der unkundige Fremde hereinfällt, und die man ihm hier und da – übrigens nicht allzu oft – in Paris noch vortingelt . . . Das ist ja nichts. Nein, ich spreche von alltäglichen Erscheinungen, von Straßendurchbrüchen, von Umbauten, von der Schaffung der Plätze, der Durchgänge – all das vollzieht sich nach unsichtbaren, vielleicht nicht einmal bewußten Gesetzen, die in den allermeisten Fällen den immanenten Charakter unzerstört lassen.

Natürlich geht viel verloren. Sobald eine enge, alte, vermuffte und verwinkelte Straße auseinanderbricht, ist der Zauber dahin – da hilft kein Instinkt und auch der beste Baumeister nicht. Aber das Neue, das dann da zu entstehen pflegt, ist denn doch nicht abstoßend, nicht knallig, nicht ›neuzeitlich‹, sondern wiederum: pariserisch. Gewisse Ecken sind natürlich einmalig und nicht zu ersetzen: die Place du Tertre auf dem Montmartre ist so oder gar nicht, die Place de la Concorde gleichfalls, ein paar Durchblicke auf der Ile St. Louis kann man wohl kaum anrühren, ohne sie zu zerstören. Aber alles andere ist dauernd angerührt worden, mit Spitzhacke und Mörtel – und was herausgekommen ist, ist immer wieder diese wunderschöne Stadt.

Und was ist über sie hinweggebraust! – Da gibt es kaum eine Straße, die nicht ihren Märtyrer hat, ihre Blutopfer, ihre Festlichkeiten und ihr großes historisches Ereignis. Hier hat ein Kloster gestanden, in dem ist Calvin erzogen, hier hat de Loyola gelernt und da ist Chateaubriand geboren . . . dergleichen gibt es ja überall – nur liegt[457] das hier in beängstigender Fülle zusammen. Und manches stimmt doch nachdenklich. Da stehen in der rue de la Hachette, ganz in der Nähe von Notre-Dame, zwei kleine alte, wacklige Häuser. In einem der beiden hat Napoleon im Jahre 1795 gewohnt . . . man muß diese kleinen Löcher von Wohnungen nur sehen! Hinter dem Collège de France hielt sich Georges Cadoudal versteckt, der wütende Gegner Bonapartes, darüber steht im ›Neuen Pitaval‹ einiges zu lesen . . . Und gerade auf dem linken Seineufer gibt es noch Straßenzüge, da muffen die Häuser von vergangenem Leben. Sie werden fallen.

Aber bleiben wird, für absehbare Zeit, das nicht renovierte, sich ewig verjüngende, alte, neu erstehende und unsterbliche Paris.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 09.09.1924.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 455-458.
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