Dem Gehege der Zähne

[446] Vor dem Richter stehn zwei Partein,

die reden zu gleicher Zeit.

Man hört Frau Schnufke: »Na sowas!« schrein.

»Das nehm ich glatt auf mein' Eid –!«

Da sagt der Richter: »Erzählen Sie mal:

Wie war das am Sonntag mit Ihrem Skandal?«

Und Frau Schnufke erzählt unter Tränengewimmer;

und aus allem, was sie berichtend klagt,

hört der ganze Gerichtssaal nur immer:

»Und da hab ich gesagt . . . und da hat sie gesagt . . . und da hab ich gesagt . . . «


Vor Deutschland stehen achtzehn Partein,

die reden zu gleicher Zeit.

Man hört Herrn Jarres »Revanche!« schrein

und Hergt nach der Kaiserzeit.[446]

Da sagt sich der Deutsche: »Erzählt mir mal:

Wie komm ich aus diesem Jammertal?

Es wird doch täglich schlimmer und schlimmer.

Wir sind isoliert. Bewuchert. Geplagt!«

Doch von den Politikern klingt es nur immer:

» . . . Und da hab ich gesagt . . . Und da hat er gesagt . . . Und da hat der gesagt . . . !«


In den Landwehrkanal fällt ein Mann hinein,

der furchtbar um Hilfe schreit.

Auf der Potsdamer Brücke stehn zwei Partein,

die reden zu gleicher Zeit.

Sie zerfleischen sich fast in wildem Zwist:

Ob dieser Mann ein Jude ist?

Die einen sagen: »Nich in die Hand!

Ich hab seine braven Eltern gekannt!«

Die andern sagen: »Sein Sie doch still!

Das hört man doch schon an seinem Gebrüll –!«

Und da hab ich gesagt . . . und da hast du gesagt . . . und da hat er gesagt . . .

Dann wurde die Debatte vertagt.


Und dann sind alle ans Gitter geloffen.

Der Mann war unterdessen versoffen.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 28.08.1924, Nr. 35, S. 312.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 446-447.
Lizenz:
Kategorien: