Deutsche in Paris

[439] »Was ist da? Was ist das da?« fragte er den Postknecht. »Na, die Berge«, antwortete der Nogaier gleichgültig. »Ich besehe sie mir auch schon lange«, sagte Wanjuscha. »Das ist mal schon! Zu Hause werden sie es uns gar nicht glauben.«

Tolstoi: ›Die Kosaken‹


Deutsche in Paris . . . das ist so ein Kapitel. Ich will nur über zwei Sorten sprechen: über die Politiker und über die Literaten.

Die Politiker, die in der letzten Zeit hierhergekommen sind, gehören meistens unsrer Linken an. Alle mir bekannten Leute dieser Art erfüllen ihre Aufgabe ehrlich und mit der denkbar größten Sauberkeit. Es liegt mir fern, ihnen ihre außerordentlich schwere und undankbare Aufgabe durch Ironisierung noch schwerer zu machen.

Dem Geschrei der nationalen Presse gegenüber muß gesagt werden, daß in keinem einzigen Fall hier so etwas wie ›Landesverrat‹ herausgekommen ist – mir persönlich schien sogar der Takt und die Zurückhaltung der Männer zu weit zu gehen, und es ist mir ein Fall bekannt, wo einer der am meisten Angefeindeten in einer öffentlichen Vereinigung die Antwort auf bestimmte Fragen mit dem Hinweis verweigert hat, daß er darüber gern in seinem Lande, aber nicht im Ausland sprechen wolle. Das war recht gehandelt – aber ich glaube doch, daß die Taktik der letzten Monate, die Franzosen immer nur zu beruhigen, auf die Dauer nicht haltbar ist. Man soll die Wahrheit sagen. Es ist nicht nur ethisch richtig, die Wahrheit zu sagen – sondern es ist in den allermeisten Fällen auch praktischer, besonders in der Politik, wo die großen Erfolge immer nur bei der Wahrheit sind, nicht bei dem kindisch überalterten Spiel der Ränke, Schliche und pfiffig-schlauen Drehungen, in denen bei uns die meisten Politiker – besonders die ältern Führer der Sozialdemokratie – die Hauptkünste ihres Metiers sehen. Man erwirbt sich mit diesen Dingen kein Vertrauen, es zeigt sich ja doch immer, daß der Berichterstatter gefärbt hat, und nur der reelle Kaufmann hat Dauerkundschaft.

Tatsächlich sind die Dinge hier seit zwei Jahren nicht vom Fleck[439] gekommen. Wenn wir – was zu erwarten steht – zu einer vernünftigen Einigung mit den Franzosen kommen, so ist das keinesfalls auf die Bemühungen der deutschen Linken zurückzuführen, die erst in der allerletzten Zeit aus ihrer Politik der Ohnmacht, der Charakterlosigkeit und der Schwäche aufgewacht ist, sondern es wäre dies die Folge einer Weltkonstellation, auf die jene reisenden Politiker auch nicht den leisesten Einfluß gehabt haben. Ihre Informationen waren in den meisten Fällen unzureichend, ihr politischer Wille haltlos, ihre wahrhaft internationale Gesinnung kaum vorhanden. Theoretisch wohl – aber im konkreten Fall fielen sie fast alle um. Jedenfalls bis vor kurzem.

Nun ist nicht jeder, der zu Hause keinen Erfolg hat, deshalb schon in Frankreich ein großer Politiker – und ich glaube immer, daß, mit ganz geringen Ausnahmen, diese Sendlinge einen großen Fehler machen: sie überschätzen die Bedeutung ihrer Reisen auf das erheblichste. Paris nimmt ihre Berichte gern entgegen – aber man darf französische Liebenswürdigkeit (die keinesfalls ›falsch‹ ist) nicht mit tieferer Beachtung der Persönlichkeit verwechseln. Dazu kommt, daß die meisten der Herren in dem engen Kreis der Politiker bleiben – und auch da wieder nur in einem bestimmten Teil –, und daß sie dann nach Hause fahren, mit dem berühmten Bericht: »Man glaubt in Frankreich . . . « Das darf man sagen, wenn man sehr lange oder mit sehr fein entwickelter Intuition Straßen, Familien, Läden, Singspielhallen und Provinzstädte vor Augen gehabt hat: der politische Salon ist nicht der Extrakt all dieser Dinge.

Daß die kleine menschliche Komik dabei nicht fehlt, ist selbstverständlich. Da gibt es welche, die haben Frankreich gepachtet – und wenn sie einem begegnen, dann sagt ihr erstauntes Gesicht: »Was machst du denn hier? Das ist mein Paris!« Da sind andre, die sind furchtbar stolz, interviewt zu werden – was in jeder großen Stadt des Auslandes gleichmäßig dem Schah von Persien, dem Schoßhund der großen Diva und dem Marathonläufer widerfährt – und es ist überhaupt amüsant, zu beobachten, wie wenige dem unbarmherzigen Licht eines fremden Landes standhalten können. Meist steht ihre menschliche Einsicht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Sprachkenntnis.

Aber das ist nichts gegen die Literaten. Wenn diese Brüder in Apoll nach Hause schreiben – da lachen ja die Hühner.

Neulich war Arthur Holitscher in Paris. Ich bekam es mächtig mit der Angst – denn gegen den Vater der deutschen Reiseschriftstellerei kann ja unsereiner doch nicht auf. Wir unterhielten uns. Erst spielten wir ein bißchen: ›Haust du meinen Fischer, hau ich deinen Jacobsohn!‹, und dann kamen wir auf die nach Paris wallfahrenden Literaten zu sprechen. Der ewig Junge lachte wie ein Siebzehnjähriger. Denn wir[440] beide sind noch so altmodisch, zu glauben, daß man nicht ins Ausland geschickt wird, um den Leser zu beschimpfen, weil er es nicht kennt. Aber während die guten alten Lodenseelen bei allem schlechten Benehmen wenigstens in der allerletzten Falte ihres Herzens naiv waren, hat sich da eine neue Snob-Literatur aufgetan, die das alte böse Wort bewahrheitet: »Der Deutsche ist entweder ein Kellner oder ein Assessor.« Der Assessorentyp schreibt selten – bleibt der Kellner.

Vor allem werden diese Berichte so aufgeblasen, daß sich der Leser sagen soll: Donnerwetter – ist das ein Kerl! Thomas Mann läßt einmal seinen Herrn Grünlich in den ›Buddenbrooks‹ so betont nebenbei sagen: »Ich bewohne drei Zimmer im Hotel –.« – »Drei Zimmer«, dachte die Konsulin – und das war es auch, was sie nach Herrn Grünlichs Absicht denken sollte. Es sind lauter Grünlichs.

Der Vater dieser Dinge ist Hermann Bahr. Wenn der zum heiligen Sankt Wichtig betet, macht er das ungefähr so: »Ich sitze da neulich mit dem Papst, mit Frau Breitensträter und dem jungen Batschari zusammen und spiele Skat – da kommt Frau Wembley, die Frau von dem Ausstellungsbesitzer Wembley, herein, und ruft: Sagen Sie mal, Bahr – was haben Sie eigentlich gegen Reinhardt?« Donnerwetter! denkt der Leser. Und das ist es auch, was er sich nach Bahrs Absicht denken soll.

Man muß einmal bei dem sublimen Kasimir Eduard Schmid lesen – oder vielmehr: man muß es nicht – wie nachlässig die berühmten Namen in die Debatte geworfen werden, so, mit dieser Geste: Ach, sind wir weltmännisch! – die großen Kokotten liegen bei uns nur so auf dem Frühstückstisch herum! Und dann hat sich diese Gesellschaft eine ganze Technik zurechtgemacht, dem Leser zu imponieren. (Dem aus Posen – denn zuletzt basiert ja alles das auf Posen. Nicht Breslau: Breslau ist eine große Stadt.)

Es ist ja doch selbstverständlich, daß man nach kurzem Aufenthalt im Ausland die landläufigen Ortsbezeichnungen, Personennamen, Zeitungstitel und Lokalbezeichnungen weg hat. Ein Kunststück scheint mir das nicht zu sein. Nun muß man nur lesen, mit welcher Pfauengrandezza, mit welch scheinbarer Nachlässigkeit die Brüder damit herumwerfen – immer mit dieser Attitüde: Ätsch – du weißt es nicht! Aber ich weiß es! Natürlich weiß er es. Dafür haben wir ihn ja hinausgeschickt, und er soll es uns nun erzählen, wies draußen zugeht. Und statt dessen bläst er sich auf.

Man achte einmal auf diese Redensarten, die immer wiederkehren, und zu denen in Klammern immer die Eitelkeitsfanfare hineinzudenken ist. »Hat man noch nicht bemerkt, daß . . . ?« (Zusatz: Aber ich habe es bemerkt, ich, der große Mann. Diese Phrase stammt übrigens von Spengler.) »Der Zutritt ist für Fremde außerordentlich schwer . . . « (Aber ich habe ihn bekommen – was bin ich für ein Kerl!) »Diese[441] Besuche sind mitunter gar nicht ungefährlich – man muß gewärtig sein . . . « (Welch ein Mut, der meinige!) Für Paris gibt es ein ganzes Klischee dieser Art. So, wie der für mein Gefühl überschätzte Ossendowski mit der Mongolei protzt, so protzen diese hier mit Paris. Nun ist das kontrollierbarer als der Fall des Polen, und wenn ich schon lese: »Neben mir sprechen zwei Kerls ein wüstes Argot . . . Die Midinettes mit ihren meterbreiten Hutkartons . . . Ganz Paris lacht . . . « dann muß ich immer denken: Das Argot hast du nicht verstanden (was keine Schande ist – denn ein neuer Gast soll der Hausfrau nicht gleich auf den Hintern klopfen); die Midinettes mit den meterbreiten Hutkartons kommen nur noch auf den Operettenbühnen vor; und ›ganz Paris‹ ist ein Schwindel. ›Ganz Berlin‹ – den Fall gibt es wohl nur selten: bei einem Fliegerangriff hat ganz Berlin Sorge, bei einem Straßenbahnerstreik, bei einem Putsch – in allen andern Fällen dient die Bezeichnung dazu, die Interessen eines wirtschaftlich oder gedanklich begrenzten Kreises künstlich aufzuplustern.

Die Franzosen selbst kümmern sich entweder um diese Wichtigmacher gar nicht oder lachen darüber. (Ich bin der Ansicht, daß es für unsereinen einmal sehr gesund ist, zu sehen, wie wenig unser geistiges Wirken im Ausland gilt – man ist liebenswürdig zu uns, aber unser Name bedeutet hier anfangs gar nichts, und das ist auch durchaus verständlich.) Wenn ich jetzt so ein kosmischer Knirps wäre, würde ich schreiben: »Da sagte mir neulich der ausgezeichnete Whitman-Übersetzer Bazalgette . . . « Nun gut, ich kenne ihn: aber das ist doch kein persönliches Verdienst! Mir war es eine Freude, mit ihm zu sprechen – weiter war nichts. Eine Freude deshalb, weil er klar und verständig durch diesen Kram hindurchsah und ihn kurz ablehnte. Und die durchreisenden deutschen Dichter sollen sich hier ja nicht durch Banketts täuschen lassen. Bankettgast zu sein, ist leicht – im Ausland geistig zu wurzeln, sehr schwer.

Nein, die kennerische Miene, mit der diese faulen Jungens den Vouvray eines französischen Restaurants auf den Lippen zergehen lassen, die dumme Anwendung irgendwelcher aufgeschnappter oder rasch gelernter Stadtausdrücke (bekanntlich ist man auf nichts so stolz wie auf das, was man seit zwei Minuten weiß): all das erinnert sehr an den Pickelhäring des Mittelalters, der da fragt: »Kannst du Latein?« – »Nein«, sagt der andre. »Alsdann: Rinus – marus – latarus.« Kann der andre aber Latein, dann sieht die Sache schon schwieriger aus.

Wenn ich Kasimirn oder den naivem Ewers am Werk sehe (deren mondänes Gehaben immer an einen fertig gekauften Smoking erinnert), dann muß ich schon sagen, daß mir die guten alten Baedeker-Reisenden lieber sind. Die waren wenigstens ehrlich.

Wer das heute noch ist, der wird im Ausland sich erst einmal an[442] die sichtbaren Tatsachen halten, etwas lernen, bevor er hinausgeht, und nicht seine Unkenntnis hinter der Lyrik verstecken. Wenn er dann auch noch Fingerspitzen hat, dann mag er hinter den Sehenswürdigkeiten, hinter den Festveranstaltungen und hinter den ›Sitten und Gebräuchen‹ des fremden Landes die Seele entdecken.

Unsre Politiker ahnen nichts von ihr, die Journalisten haben keine Zeit, und die Snobs in der Literatur haben alle je ein Verhältnis mit einer russischen Großfürstin.

Paris kanns aushallen.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 14.08.1924, Nr. 33, S. 262.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 439-443.
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