Gebet nach dem Schlachten

[437] Kopf ab zum Gebet!


Herrgott! Wir alten vermoderten Knochen

sind aus den Kalkgräbern noch einmal hervorgekrochen.

Wir treten zum Beten vor dich und bleiben nicht stumm.

Und fragen dich, Gott:

Warum –?


Warum haben wir unser rotes Herzblut dahingegeben?

Bei unserm Kaiser blieben alle sechs am Leben.

Wir haben einmal geglaubt . . . Wir waren schön dumm . . . !

Uns haben sie besoffen gemacht . . .

Warum –?


Einer hat noch sechs Monate im Lazarett geschrien.

Erst das Dörrgemüse und zwei Stabsärzte erledigten ihn.

Einer wurde blind und nahm heimlich Opium.

Drei von uns haben zusammen nur einen Arm . . .

Warum –?


Wir haben Glauben, Krieg, Leben und alles verloren.

Uns trieben sie hinein wie im Kino die Gladiatoren.

Wir hatten das allerbeste Publikum.

Das starb aber nicht mit . . .

Warum –? Warum –?


Herrgott!

Wenn du wirklich der bist, als den wir dich lernten:

Steig herunter von deinem Himmel, dem besternten!

Fahr hernieder oder schick deinen Sohn!

Reiß ab die Fahnen, die Helme, die Ordensdekoration!

Verkünde den Staaten der Erde, wie wir gelitten,

wie uns Hunger, Läuse, Schrapnells und Lügen den Leib zerschnitten!

Feldprediger haben uns in deinem Namen zu Grabe getragen.

Erkläre, daß sie gelogen haben! Läßt du dir das sagen?

Jag uns zurück in unsre Gräber, aber antworte zuvor!

Soweit wir das noch können, knien wir vor dir – aber leih uns dein Ohr!

Wenn unser Sterben nicht völlig sinnlos war,

verhüte wie 1914 ein Jahr!

Sag es den Menschen! Treib sie zur Desertion![437]


Wir stehen vor dir: ein Totenbataillon.

Dies blieb uns: zu dir kommen und beten!

Weggetreten!


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 07.08.1924, Nr. 32, S. 233, wieder in: Mit 5 PS.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 437-438.
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