Zu tun! Zu tun!

[409] Heute lese ich da in der Zeitung:

In Los Angeles gibts einen Schnapsverein,

und man befürchtet seine Verbreitung

in dem übrigen Land – dabei fällt mir ein:

Ich sollte mal wieder an Edith schreiben

(in Kalifornien) – seit Januar

liegt der Brief da, und ich laß es bleiben

und verschieb es nun schon ein halbes Jahr.

Das ist nicht richtig. Es nimmt mir die Ruh.

Aber . . . ich komme nicht dazu.


Der Arzt sagt, ich soll mir Bewegung machen.

Da gibt es so eine Schule für Sport . . .

Auf dem Boden liegen noch alte Sachen,

die sollten doch längst für die Armen fort!

Bin ich an Vaterns Grab gewesen?

Ich nehm es mir vor – und dabei wirds nie.

Das Gelbbuch wollte ich immer mal lesen,

das und Simmels Soziologie.

Wie oft wollt ich schon nach Friedrichsruh!

Aber . . . ich komme nicht dazu.


Einstmals, wenn die Posaunen schallen,

steigt auf der Berliner aus seinem Grab.

Und er steht in der ersten Reihe vor allen –

(»Weil ich doch meine Beziehungen hab!«)

Gott, der Herr, mild und voll Frieden,

der über allen Gewässern schwebt,[409]

spricht: »Berliner! Was tatst du hienieden?

Menschenskind! Wie hast du gelebt –?«


Und der Berliner sagt darauf verschwommen:

»Ich . . . bin leider nicht dazu gekommen.«


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 10.07.1924, Nr. 28, S. 65.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 409-410.
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