Der alte Herr

[64] Werden wir eigentlich auch mal so? Der alte Herr schlurft seelisch, mit den Beinen geht es noch ganz gut, er denkt nur in Filzpantoffeln. Seine Lebensarbeit hat er geleistet, sein Bestes gesagt, sein Schönstes gewirkt – er könnte nun abtreten. Er könnte nach Hause gehen, um seinen Kohl zu bauen – weise lächelnd den Weltenlauf betrachten und uns andre mit seiner überlegenen Güte beschämen. Er könnte auch noch in hohem Alter wirken, noch einmal blühen – das mag vorkommen. Er könnte ab und zu ein Wort sagen über den Lauf der Welt, ein Wort, in dem so vieles rauschte, wenn man es ans Ohr hielte, wie in einer Muschel . . . Es ist ein alter Herr.

Aber welche Agilität! Der Motor läuft falsch, seine tote Last ist viel zu hoch – drei Viertel der Tagesarbeit des alten Herrn gehen damit hin, die jungem Leute daran zu hindern, auch nun ihrerseits nachzurücken. Ah – nichts davon. Das macht er alles noch allein! Ich habe es so lange gut gekonnt – ich werde es auch weiterhin machen! Die kleinen flinken Augen gehen rings im Kreise, ist da jemand –? Hier hat niemand zu sein! Wie eine dicke Henne auf Küken und Eiern, so sitzt[64] der alte Herr auf seinem Werk, das er eifersüchtig gegen frische Luft bewahrt und bewacht. Immer die Hosen voll Furcht, er könnte eines Tages abgesetzt werden, immer die finstere Vision des Endes vor Augen, gestachelt vielleicht von der ehrgeizigen Frau, paßt er mächtig auf. Beileibe nicht auf das, was er zu tun hat – sondern auf die andern, die seins nicht tun sollen. Seinen Kram erledigt er, wie vor dreißig Jahren – in alter Frische. Die Jüngern beißt er weg – ›Ist der und der etwa gefährlich?‹ – in alter Frische. Welche Kraft! Welche irregeleitete und verkehrt angewendete Arbeit! Und keiner sagt: Du bist zu alt, alter Junge – geh ab! Du ähnelst dem Professor, dessen Frau sagte: »Ich weiß nicht – mein Mann liest jetzt ein Kolleg, in das geht kein Mensch hinein. Und früher war es so voll! Und es ist doch noch genau dasselbe Kolleg wie vor dreißig Jahren.« Keiner sagts. »Wissen Sie – man kann doch nicht – es ist ein alter Mann . . . « Eben deswegen. Wie zäh das klebt! Wie eigensinnig das ist, wie unangenehm ehrsüchtig, wie eitel, wie verbohrt, wie hartnäckig! Es muß doch schwer sein, zur richtigen Zeit abzutreten. Ob wir auch einmal so werden –?


»Sagen Sie mal . . . Schönes Wetter heute! . . . Sagen Sie mal . . . hm.. Was Sie da in der ›Weltbühne‹ über den ›alten Herrn‹ geschrieben haben: haben Sie da an einen Bestimmten gedacht?« An einen Bestimmten? Nein. An zwei. Ich kenne zwei, die so sind – einen in der Politik, einen in der Literatur. Ich habe sie ein bißchen übereinander fotografiert, und nun ist der Typus herausgekommen. »Und . . . entschuldigen Sie . . . können Sie mir die Namen verraten?« Beide Herren werden den kleinen Aufsatz lesen und werden sagen: Wahrhaftig – solche alten Knacker gibts noch. Da hat er ganz recht. Wir Jungen . . . »Na ja – aber die Namen! Ich meine, wer ist das?« Die Namen? Wirklich prachtvolles Wetter heute!


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 17.03.1925, Nr. 11, S. 411.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 64-65.
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