Der soziologische Horizont

[246] Vor achthundert Jahren, als noch rechts der Elbe Kaschuben, Wenden und die Vorfahren jener Männer saßen, die heute das Wort ›Rassereinheit‹ im Munde rollen, vor achthundert Jahren wußte der märkische Bauer nichts von den Ureinwohnern Australiens. Hätte man einem von ihnen die Abenteuer Nanuks oder die kaiserlichen Gebräuche in Peking berichtet – wahrscheinlich wäre man aus dem Dorf herausgeprügelt worden. Heute haben wir den Aufkläricht, heute wissen alle Leute alles. Oder sie bilden es sich doch wenigstens ein.

Denn sie sind ›herumgekommen in der Welt‹ – so sagen sie. Und damit meinen sie die lokale Verschiebung auf Reisen, sie haben den geographischen Schauplatz gewechselt, sie sind gereist, gewandert, gefahren, haben Touren unternommen . . . Aber sie haben doch die ökonomische Schicht so selten verlassen, jene Umwelt, der sie fast unabänderlich angehören, und aus der man fast niemals heraufsteigen kann und nur schwer und künstlich herunter . . . Wie groß ist der soziale Horizont eines Menschen –? Er ist doch wohl viel kleiner als man glaubt.

[246] Die große Menge der Urteile beruht auf Überlieferung, auf angelesenen Urteilen, auf fertiggenähten Schilderungen, die einer dem andern konfektioniert überreicht. Der kleinste Teil ist empirisch erworben. Und auch da gehts sonderbar zu.

Natürlich ist ein Kollektivurteil ohne Verallgemeinerung von Einzelerfahrungen gar nicht denkbar. Es ist nicht möglich, alle Islandfischer zu frequentieren, oder auch nur die Mehrzahl aller sächsischen Fabrikarbeiter – wenn man über diese Klasse ein gültiges Urteil abgeben will. Man wird sich immer auf mehr oder minder zahlreiche Einzelfälle beschränken müssen und nach ihnen, zusammenfassend, urteilen. Das geschieht oft drollig genug.

So, wie Tony Buddenbrook durch ihr ganzes Leben die kleinen verliebten Kollegs über Politik des jungen Herrn Schwarzkopf mit sich führt, so tragen die meisten Menschen – ausgenommen du und ich und der Redakteur und der Setzer, natürlich – gewisse Erfahrungen aus der Jugendzeit als unabänderliche und fest fundierte empirische Tatsachen mit sich herum. Auf nichts ist der Mensch so stolz wie auf das, was er selbst gelernt hat – und wenn es auch blanker Unsinn war, er hats doch einmal begriffen, und da ist dann nichts mehr zu machen. »Sie werden mir das doch nicht erzählen! Ich habe doch selbst . . . « Renn mit dem Kopf gegen eine Wand aus Stahl – aber den da gib auf.

Sehen wir von den Menschen ab, deren Beruf es mit sich bringt, daß an ihnen zahlreiche Schichten, Klassen, Menschenschicksale vorüberziehen (etwa die Richter, wobei zu bemerken wäre, daß gerade solche am ehesten abstumpfen und zum Schluß nicht mehr sehen) –: so sind es Raritäten, die wirklich mit allen Wassern gewaschen, mit allen Hunden gehetzt, in allen Sätteln gerecht sind. Das ist selten, selten wie die blaue Mauritius. Der Rest . . .

Der Rest hat einen fix und fertigen Vorrat von Begriffen im Kopf, zu denen nicht einmal immer das ökonomische Interesse treten muß, um sie zu färben. Daß ein Glasfabrikant keine Gesellschaftsordnung bejahen wird, in der das Glas für eine gotteslästerliche Sünde erklärt wird, ist glasklar – daß die Schauspieler keine begeisterten Antialkoholiker sind, auch. Aber selbst in Dingen, die jeden persönlichen Interesses entbehren, begnügt sich wohl die Mehrzahl aller Menschen mit Gehörtem, Gelesenem oder mit ein paar Einzelerlebnissen, die dann als Richtschnur für ein ganzes Leben gelten.

»Die Einwohner dieser Stadt haben rote Haare und stottern . . . « Ach, wie viele solcher Schilderer gibt es. Und wenn man jemand – durch ein Zaubermittel – veranlassen könnte, die volle Wahrheit, sogar vor sich selbst, zu sagen und nicht einmal mehr sich selber zu belügen: was müßte er da als Fundus, als Beweisgrund, als Ursache seiner Werturteile über Klassen, Kasten, Gesellschaftsschichten angeben! Welche Nichtigkeiten kämen da zu Tage! Wer hat wochenlang mit Gutsbesitzern[247] verschiedener Artung und verschiedener Provinzen zusammengelebt, um über sie zu urteilen? Wer kennt die Leiden und Freuden eines Kellners wirklich? Wer weiß, wie es in Spielklubs und zugleich in Nähstuben der Heimarbeiterinnen und zugleich im Gefängnis und zugleich in Botschaften zugeht?

Dichter, sag nicht: der Dichter.

Das langt heute nicht mehr. Balzac war ein Genie – es dürfte kein Zufall sein, daß es heute keinen solchen gibt. Bestenfalls unterrichten sie uns vorzüglich über eine Klasse, etwa über die ihre oder manchmal über eine, die sie besonders hassen – aber über mehrere? Und authentisch? Ihr wißt ja, wie die Bankbeamten, Zahnärzte, Buchbinder, Arbeitsleute, Finanzgrößen in der modernen Literatur aussehen . . . Schießbudenfiguren.

Es scheint so etwas wie einen soziologischen Flair zu geben, eine untrügliche Ahnung, daß das, was man soeben gesehen hat, nichts Typisches war, sondern etwas Einmaliges, Exzeptionelles, Besonderes . . . Einen Flair, der von fern her wittert, daß dies der normale berliner Gepäckträger war, daß alle etwas von ihm haben müssen, daß dieser kein Original, sondern ein Fabrikat darstellte . . . Die meisten Beobachter hauen hierbei daneben.

Wie schief und krumm sind die meisten soziologischen Urteile! Wie vorschnell! Oder wie urgründlich, aber ohne jeden Instinkt! Es muß wohl eine besondere Veranlagung sein.

Den Tanganjika-See erforschen, das kann jeder. Aber die Gemütsart von mitteldeutschen Fabrikbesitzern grundlegend schildern, die Denkweise von ausgesperrten Arbeitern aus dem Rheinland, die Gefühle von jungen Studenten in Königsberg, lokale und gesellschaftliche Besonderheiten auch durch die Mechanisierung hindurch zu sehen – das können wenige, fast begnadete Forscher.

Der soziologische Horizont der meisten Menschen ist klein wie der Boden einer Konservenbüchse. Sie wähnen sich im Himmel. Eine neue Gesellschaftsliteratur sollte sie aus diesen schönen Träumereien reißen und ihnen die Erde zeigen, wie sie ist. Bunt, eintönig, abwechslungsreich, bis zur tödlichsten Langeweile individuell, von uralter Frische. Aber die Herren Schriftsteller haben keine Zeit. Sie lösen Probleme, sie bekümmern sich um die außerordentlich wichtigen Modalitäten einer Fortpflanzung, sie bauen eine Nebenwelt auf. Freilich: um einer Zeit den Spiegel vorzuhalten, muß man ein guter Glasmacher sein.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 01.11.1925.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 246-248.
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