Weiße Russen

[50] Sie wohnen in ganz Europa, und sie haben viel durchgemacht. Ihre merkwürdige Geschicklichkeit, ihr enger, über alle Klassen hinweg immer wieder betätigter Zusammenschluß, ihre passive Lebenskraft lassen wenige untergehen, die meisten Verlorenes wieder aufbauen, viele von neuem aufsteigen.

Wo sie sind, ist Rußland; sie tragen die Heimat mit sich herum; wo russisch gesprochen wird, ist Erde. Sie sind nicht gut, nicht schlecht – es sind Russen.

Den Bolschewiken fluchen die meisten. Das täte in der gleichen Lage jeder, wir auch. Man hat ihnen alles genommen, sogar die Möglichkeit, zu fliehen – weil es verboten und unmöglich war, zu fliehen, sind sie geflohen, natürlich. Sie erzählen wahre Schauergeschichten über Rußland, wahr und schauerlich zugleich, im Laufe der Jahre sind Zusatz, Lüge, Übertreibung, Wahrheit und Echtes nicht mehr auseinanderzutrennen.

Aber man sollte nicht sie über Rußland hören.

Jede reaktionäre Zeitung in allen Ländern Europas hat ihren Rußland-Spezialisten, gewöhnlich einen weißen Russen. Was da alles zu finden ist –! Vom jungen Adligen bis zum gekauften Journalisten, vom nebenbei schreibenden Handelsagenten bis zum nebenbei handelnden Romanschriftsteller – alle schreiben in ihren tausendzeiligen Artikeln nur zwei Silben: Rache! Ihre Schilderungen enthalten nur dieses Wort, ihre Rufe, ihre scheinbar wissenschaftlichen Untersuchungen nur einen Schrei: Rache!

Man sollte sie nicht hören. Ein Gesindel, das nie, nie auch nur ein Wort für die Entsetzlichkeiten des Zarenregimes übrig gehabt hat, nie ein Wort gegen den Fabrikdespotismus der Westeuropäer, gegen die Herren der Tuberkulose und die Kinder des Bodenwuchers – sie entrüsten[50] sich, wenn Krassin die Botschafter zum Tee einlädt und Rakowsky Kaviar ißt. Seit sechs Jahren hocken sie auf allen Schreibtischsesseln und prophezeienden Untergang Rußlands, zu dessen Auftrieb sie niemals etwas beigetragen haben. Statistische Zahlenreihen, höhnische Untersuchungen über die Tscheka, den Fellhandel in Rußland, die Hungersnöte in Rußland – wie ein grauer, sehr durchsichtiger Schleier liegt das vor geballten Fäusten expropriierter Eigentümer, ehemaliger Teppichbesitzer, Schmuckverlierer. Was sie tun, ist menschlich – und völlig wertlos. Unglück enthüllt. So hat es den großen Mereschkowski als kleinen Bürger demaskiert. Man sollte sie nicht hören.

Sie vergessen in ihrem Unglück eines: sie sind nicht Richter – sie sind Gerichtete. Viele hats unschuldig getroffen – sie haben aber früher auch nicht gefragt. Schuld an ihrem heutigen Geschreibe sind nicht so sehr sie – schuld sind die Angestellten der Buchdruckereibesitzer und Inseratenexpeditionen, die das Rachegefühl dieser Menschen als Posten in eine schmutzige Rechnung einsetzen. Aber die Rechnung geht nicht auf; es bleibt ein Rest. Der Rest rumort unangenehm-hörbar in der Tiefe.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 24.02.1925, Nr. 8, S. 293.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 50-51.
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