Zum Fünfzigsten

[237] Lieber Alfred Polgar,

wenn Ihnen am Morgen das Hausmädchen hochroten Kopfes die Torte mit den einundfünfzig brennenden Lichtern hereinträgt und gratuliert, dann wird sie gleich hinter dem Glückwunsch sagen: »Es ist ein Mann draußen!« – und Böses ahnend werden Sie den Mann hereinlassen. Und da stehe ich nun dick und dumm vor Ihnen mit einem weltbühnenroten Blumenstrauß und gratuliere namens aller Leser des Blättchens. Ich bin so ungefähr derjenige mit der kleinsten Qualifikation dazu.

Denn bei aller Liebe oder wegen aller Liebe wird mir niemals gelingen, herauszukristallisieren, was eigentlich in Ihnen den Charme, den Reiz, den Wert und die Qualität ausmacht. Warum und zu welchem Ende studieren wir Alfred Polgar?

Sie haben die Millesimalwaage der Kritik erfunden. Mit Ausnahme des alten Fontane weiß ich keinen Theaterkritiker deutscher Sprache, der so aufs Augenhärchen genau sagen kann, was er sagen will. So haben Sie einmal das größte Kunststück fertiggebracht, der alternden Duse zu sagen, daß sie altert, aber daß sie die Duse ist; Sie haben von Pallenberg erzählt, als noch niemand diesen Namen buchstabieren konnte, und in dem kleinen Absatz ist schon der ganze Kerl und seine bunte Karriere. Und wenn Sie einmal in den Himmel kommen, so wird Ihnen der liebe Gott aus seinem Hauptbuch wahrscheinlich viele Sünden vorlesen, aber eine wird nicht dabei sein. Wir andern sind jeder schon einmal ausgerutscht, wir haben jeder schon einmal in der Hitze des Gefechts Dinge gesagt, die besser ungesagt geblieben wären, und es gibt keinen von uns, der sich nicht einer Entgleisung in Sachen des Taktes schuldig gemacht hätte. Sie nicht.

Dieser feinste Takt verbindet sich mit einer Ehrfurcht . . . Sie sind gar nicht mehr im Zimmer? Wo sind Sie? Das Hausmädchen kommt herein und sagt: »Der Herr läßt sich entschuldigen. Dem Herrn ist nicht ganz wohl!« Das kann ich Ihnen nachfühlen. Aber wie soll ich gratulieren?

Wie soll ich aufzählen, was ich alles von Ihnen gelesen habe – und wie ich es gelesen habe? Wie ich die alten Bände der ›Weltbühne‹ (soweit sie ein Inhaltsverzeichnis besitzen) nach Ihren Beiträgen durchforscht und geblättert und gesucht . . . ? Jetzt sitze ich hier in Toulouse, das beinah so häßlich ist wie Stettin, Ihre gesammelten Werke habe ich nicht bei der Hand, aber ich lese aus dem roten Hotelteppich:

Wie Sie von einem Stück geschrieben haben, sein Esprit knallte: piff, paff, puff, besonders puff; wie Sie von einer Figur gesagt haben, sie sei der Unterleib ohne Dame; von Millenkovich, er sei der Laube des Burgtheaters, der Gartenlaube; wie Sie den Versen Fuldas erst jüngst subalterne Anmut nachgesagt haben; von jenen zwei Krondiamanten [237] ›Scharlach‹ und ›Wie der Goethe entstand‹ ganz zu schweigen.

Und wie müssen wir dem lieben Gott danken, daß er einen Schönherr schuf! Jenen Schönherr, dem man später den Bart abnahm und Hans Müller nannte. Es gibt nichts Komischeres als Ihre Inhaltsangaben solcher Monumente aus Kaugummi.

Sie haben aber nicht nur immer Bühnenkunst durchleuchtet, sondern auch einmal jenes große Affentheater von 1914 bis 1918. ›Kleine Zeit‹ heißt der Band mit Recht, und die reichsdeutschen Redakteure haben mit Wonne gedruckt, was Sie über die Habsburger zu sagen hatten, denn die Habsburger abonnieren keine reichsdeutschen Zeitungen.

Ich weiß, daß man Geburtstagskinder halb krank ärgert, wenn man ihnen nun auch noch Geist in der Unterhaltung nachrühmt; aber Sie können sich ja bei meinem Fünfzigsten rechtens mit dem Gegenteil revanchieren. Ich für meinen Teil habe nicht vergessen, wie Ihnen einmal ein berliner Theaterdirektor den Vorschlag gemacht hat, eine politische Revue zu schreiben. Sie sagten ja, wollten aber nicht recht mit Ihrem Namen heran. Darauf bot er Ihnen – die Ziffern weiß ich nicht mehr – statt 18000 Mark 14000. Worauf Sie: »Da kann man also durch Subtraktion feststellen, wieviel mein Name wert ist!« Und als man Sie dann befragte, was Sie nun beschließen würden, entschieden Sie sich für folgende Lösung: »Ich werde 16000 verlangen und Alfred signieren!«

Lieber Alfred Polgar: ein Gratulant ist noch um eine Kleinigkeit lächerlicher als ein Geburtstagskind, besonders wenn er aus Berlin stammt und nicht jene österreichische Leichtigkeit besitzt, die vom Oberkellner bis herunter zu Hermann Bahr Ihre Landsleute so oft kompromittiert haben.

Unser gemeinschaftlicher lieber Gott, Knut Hamsun, ist, wie Sie wissen, heftig gegen das Alter eingenommen. »Man sagt, mit dem Alter sollen andre Freuden kommen, die man früher nicht gehabt hat, es kommen tiefere Freuden, bleibendere Freuden. Das ist Lüge. Ja, du liest richtig: das ist Lüge. Nur das Alter selbst sagt das, der für sich selbst Interessierte, der mit seinen Resten großtut. Er erinnert sich nicht mehr daran, als er auf dem Gipfel stand, er selbst, sein eigner alias, rot und weiß, wie er in die goldene Posaune blies. Jetzt steht er nicht – nein, denn er hat sich gesetzt, ja, denn es ist leichter zu sitzen. Und da kommt nun zu ihm, leise und schleichend, dick und dumm, die Ehre des Alters. Was soll ein sitzender Mann mit Ehre tun? Ein stehender Mann kann sie gebrauchen, ein sitzender Mann kann sie nur haben. Aber die Ehre ist dazu da, daß man sie gebraucht, nicht, daß man sich damit hinsetzt. Gebt einem sitzenden Mann warme Strümpfe.«

In diesem einen Fall will ich mit einer Reverenz nach Norden eine kleine Ausnahme gemacht haben: Ihre Schriften werden immer besser, wie alter Wein.

[238] Erlauben Sie mir, lieber Alfred Polgar, Ihnen zum Fünfzigsten keine warmen Strümpfe zu schenken, sondern Verehrung. Verehrung und Hochachtung vor dem feinsten und leisesten Schriftsteller unsrer Generation.

Danke, keine Torte. Aber einen Händedruck.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 20.10.1925, Nr. 42, S. 614.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 237-239.
Lizenz:
Kategorien: