Das Zeitdorf

In jeder kleinen Stadt sitzt einer und hat sie bis zum Hals herauf satt. Ah – die ewig gleichen Häuser, der Marktplatz, die dummen Hunde – die ewig gleichen Menschen, die Enge, die zu nahe Vertrautheit mit allen – und wenn Sie wüßten, wie ich mich sehne, einmal herauszukommen . . . ! Wir haben hier in Messenthien so gar keine Anregungen . . . Ein trübes Dorf. Paris! London! Sie ahnen nicht, wie beschränkt die Menschen hier sind . . . Hinaus! Hinaus –!

In jeder Zeit sitzt einer und hat sie bis zum Hals herauf satt. Ah – die ewig gleichen Schlagworte, der Gemeinplatz, die dummen Bilder – die ewig gleichen Zeitgenossen, die Enge, die zu nahe Vertrautheit mit allen[182] – und wenn Sie wüßten, wie ich mich sehne, einmal herauszukommen . . . ! Wir haben hier im Jahre 1926 so gar keine Anregung . . . Eine trübe Zeit. Renaissance! Das Jahr 2000! Sie ahnen nicht, wie beschränkt die Menschen von heute sind . . . Hinaus! Hinaus!

Reisen bildet.

Es kommt freilich nicht darauf an, wo man seine Koffer hinträgt; es kommt darauf an, was man nach Hause bringt – im Kopf. Manche reisen durch die ganze Welt und kommen eine Kleinigkeit dümmer heim als der Nachtwächter von Messenthien. Ich kannte einen Kaufmann, der stak lange in Indien – seinem Intellekt nach hätte ich ihm kaum Magdeburg zugetraut.

Aber freilich erwarten die meisten Leute vom Draußen mehr, als da anzutreffen ist; und wenn nicht die Bewegung der Reise wäre, das Fremdsein, da bliebe nicht viel. »Es ist schön«, spricht der Weise, »die Dinge zu schauen – es ist schrecklich, sie zu sein.« Und man möchte ja nicht gleich überall wohnen. Denn wohnt man, so tauchen auf einmal alle Bekannten der kleinen Stadt wieder auf: die Ehrgeizige und der Dreigroschen-Mussolini – der Nachtwächter der Kunst und der Straßenreiniger der Zensur . . . alle Vögel sind schon da. Und fluchtartig ergreift der Fremde erneut den Regenschirm.

Alles das gibt's auch in der Zeit. Wir sind eingefangen in der Zeit wie in einem kleinen Nest – umlauert, beklatscht, alle Welt kennt sich und rückt einem unangenehm nahe auf den Leib – da gibt's keine Flucht. Es ist manchmal, um aus der Zeit zu fahren.

Und wohin führen wir dann? In die Zeitfremde.

Wir müßten erst die Sprache der andern Epoche lernen – auch mit dem reinsten Deutsch des Jahres 1926 käme man in dem Berlin von 1805 nicht weit. Fremd ständen wir herum, wären erheitert und erschüttert, begeistert und beglückt, ermüdet und gelangweilt, wie auf einer Reise. Und wären wir akklimatisiert, sehnten wir uns fort, in eine andere Zeit.

Aber gäbe es das, so fiele vielleicht eins fort: der Größenwahn, den jede Epoche ihr eigen nennt. Die Welt ist erfüllt von Kleinstädtern der Zeit, von Leuten, die nie aus ihrer Zeit herausgekommen sind, die nichts andres gesehen haben als ihre kümmerlichen siebzig Jahre. Reisebeschreibungen haben sie ja gelesen, also Geschichtsbücher – aber das allein tut's nicht. Wie gut täte ihnen, sich einmal den Zeitwind um die Nase wehen zu lassen – Was sähen sie?

Sie sähen, wie andre Zeiten andre Sitten gebären – wie andre Zeiten andre Ideale haben, wie grade das, was ihnen selbstverständlich ist, es zu andrer Zeit nicht war – und da nur und ausschließlich das Selbstverständliche, das, worüber keiner mehr spricht, charakteristisch für einen Menschen ist, so kämen sie vielleicht gewandelt, durcheinandergeschüttelt, weiser zurück. Sie sagten nicht mehr: Das ist so! Sondern sie sagten:[183] Ja, das ist heute so . . . ! Aber sie sähen noch ein andres.

Sie sähen auf einmal, wie wenig die Bedeutung der Personen und der Sachen dem Aufwand an Radau entspricht, der stets vollführt wird, sie werden sich vorkommen, wie ein Fremder, der aus Versehen in einen Verwandtschaftskrach hineingeraten ist. »Oh!« denkt er sich. Und: »Warum schreien nur alle diese Leute so entsetzlich –?« Zeitgenossen sind gereizt wie Kleinstädter, gereizt aufeinander, wie es sonst nur Familienmitglieder sein können, mit ewig alarmbereitem rotem Kopf. Dabei lohnt es gar nicht. Und sie verständen, daß der Trubel hauptsächlich daher kommt, weil die umstrittenen Menschen und Dinge nicht nur ihre Bedeutung an sich haben, sondern noch eine andere merkwürdige Eigenschaft: die, gerade der Zeit anzugehören, in der die Zänker leben. Eine Unterhaltung über vergangene Gegenstände hat immer eine liebe Kühle – das Heute wird heftig und heiß beschossen. Genau so, wie sich Frau Landrat nicht über die Abstinenzler in Kanada aufregt, wohl aber über den Hut ihrer Gutsnachbarin.

Kleinstädter sind unduldsamer, härter, unnachgiebiger als die Leute in der City. Kleinstädter wissen alles ganz genau, aber wenig von der Relativität, halten zäh fest an dem, was sie einmal für richtig erkannt haben, und lassen nichts außerhalb ihrer Mauern gelten. Kleinzeitler desgleichen. Befangen sind sie im Wahn ihrer alleinseligmachenden Zeit.

Und, weil man niemals Belgard in Pommern mit der Insel Bali widerlegen kann, weil der Amtsrichter in Belgard immer sagen kann: »Das mag ja alles sein – aber wir machen das hier so!« – deshalb hilft alles Wunder der Gleichzeitigkeit nichts. Für den kleinen Bürger im achtzehnten Arrondissement zu Paris ist London weit und das sechzehnte noch weiter – und auf alle Fälle will er von ›dem da draußen‹ nicht viel wissen. Er ist der Mensch in der Mitte, und wo er sitzt, ist oben.

Und daher macht es auch auf die Kleinzeltler wenig Eindruck, wenn man ihnen den Napoleon, die Messalina und den Wallenstein vorhält . . . so wenig, wie ein Cowboy in einem norwegischen Fischerdorf etwas andres als eine Art ärgerlichen Erstaunens hervorrufen kann. Hier bei uns nicht, mein Lieber . . . Der weitgereiste Fremde mag die Enge verlachen – zu ändern vermag er sie nicht, zu erweitern vermag er sie nicht.

Töne, Unsterblichkeit! Blase, Nachruhm, aus vollen Backen auf der Posaune des Ruhms –! Du rührst die Zeitgenossen nicht. Denn sie haben eines voraus, etwas, das unschlagbar ist: sie sind dran. Es ist ihre Stunde, ihr Tag, ihre Zeit. Und dagegen kommst du nicht an.

Der Mann auf der Zeitmaschine bei Wells fährt auf und davon – der hat's gut. Wir andern aber sitzen gefesselt, angeschmiedet, zur ewigen Kleinzeit verurteilt und sehnen uns hinaus. Reisen –! Einmal aus der Zeit reisen.


  • [184] · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 15.08.1926.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975.
Lizenz:
Kategorien: