Das alte Vertiko

[355] Claire Waldoffn, der Löns-Verehrerin


Zu Haus, in unsrer guten Stube,

da stand, gleich neben dem Trümoh,[355]

mit einem Griff an jedem Schube

ein altes braunes Vertiko.

Es war verziert und reich gedrechselt

mit Knöpfen, Köpfen weit und breit;

den Stil hat niemand nicht verwechselt:

Diß war noch aus der Muschelzeit.


Mir schiens ein Sinnbild unsres Lebens.

So kam zu mir in jungem Jahr,

leicht schielend, aber nie vergebens,

ein Mädchen schön und wunderbar.

Ich habe gern mit ihr gemuschelt;

und wenn mein kleiner Anton schreit,

mit Silberblick sich an mich kuschelt . . .

Der ist noch aus der Muschelzeit.


Das gute Kind! Heut machts noch Faxen,

es inkelt mit und ohne p;

doch ist der Junge mal erwachsen,

dann kommt er in die SPD.

Da gibt es Leute, die noch glauben

an Taktik, Maß, Gerechtigkeit . . .

Das will ich ihnen auch nicht rauben.

Mein Gott, ihr seid

ja so gescheit . . .

Und stammt noch aus der Muschelzeit.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 16.02.1926, Nr. 7, S. 272.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 355-356.
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