Deutschenhaß in Frankreich

[436] Auf meine neulich hier erhobene Frage: »Haßt der Franzose den Deutschen?«, die ich mit Nein beantwortet habe, schreibt mir, unter andern, ein berliner Studienrat und fragt seinerseits nach den französischen Schulbüchern. Er führt an, eine nationalistische deutsche Monatsschrift habe erst jüngst einen Aufsatz mit Zitaten aus französischen Schulbüchern veröffentlicht, die angeblich alle im Gebrauch seien, und habe diese Methoden einer verhetzenden Kindererziehung als Waffe gegen den Pazifismus ausgespielt. Der Studienrat fügte hinzu, daß ihm diese Monatsschrift als in solchen Dingen nicht zuverlässig erscheine.

›Nicht zuverlässig‹ ist sehr höflich. Es handelt sich um die ›Monatshefte‹ des Herrn Cossmann, und es ist natürlich nicht möglich, nach der Dolchstoßlüge sich ernsthaft mit einem Organ abzugeben, dessen objektive Sorgfalt bei Zitaten mehr als fraglich erscheint. Also diese Veröffentlichung besagt natürlich weder für noch gegen die Franzosen irgend etwas.


Es gibt in Frankreich nationalistische Schulbücher: Lesebücher mit nationalistischen Erzählungen, Geschichtsbücher, die mehr als nötig den gesamten Plunder an Kriegstaten und Daten, bezopften Dynastiehistorien, von Geschichten vom bösen Feind und dem guten lieben Vaterland enthalten. Daran ist gar kein Zweifel. Es wird auch in fortschrittlichen Kreisen darüber geklagt.

Diese Schulbücher sind, soweit ich das nachprüfen konnte, nicht die Mehrheit. Hier ist sorgfältig zwischen ›national‹ und ›nationalistisch‹ zu unterscheiden – der Durchschnitt der französischen Schule ist, der[436] Zusammensetzung des Parlaments, der allgemeinen Gesinnung und der Verfassung gemäß, noch lange nicht ›paneuropäisch‹. Aber wer dumm und starr nach dem Buchstaben zitiert, begeht bei der Betrachtung französischer Zustände einen womöglich noch größeren Fehler als er ihn dadurch anderswo beginge: der Franzose ist nicht autoritätsgläubig.

Der geradezu märchenhaften Überlastung der französischen Schulkinder durch Hausaufgaben steht eine ungleich größere Gewissensfreiheit gegenüber. Selbstverständlich ist die Möglichkeit einer Infektion, einer Beeinflussung gegeben: aber der Druck, der auf dem Kinde lastet, ist lange nicht so groß wie in Deutschland. Das oberste Prinzip des französischen Lehrers ist: abwarten, zusehen, lenken, aber nicht vorwärtspuffen.

Kommt dazu, daß die sozusagen politische Selbständigkeit der höhern Lehranstalten verhältnismäßig groß ist, was sich bei der Wahl der politischen Redner anläßlich der Verteilung der Schulpreise ausdrückt, so wird man ermessen, wie schwer ein allgemeines Urteil zu fällen ist. Ich glaube aber sagen zu können:

Wenn in größerem Ausmaß, als mir bekannt ist, eine nationalistische Verhetzung der Kinder durch die Schule besteht, so scheitert sie in ihrer Wirkung an dem durchaus friedlichen Gesamtgeist der Bourgeoisie. Dieser immanente Pazifismus hat einen viel gefährlicheren Feind, als es die Schule ist – und das ist die Kirche.

Es kann nur immer und immer wieder davor gewarnt werden, etwa die Begriffe ›Zentrum‹ und ›Clergé‹ gleichzusetzen. Der französische Klerus ist reaktionär, durchaus nationalistisch, verhetzt und verhetzend und leistet dem Staat seine wie er glaubt unschätzbaren Dienste hauptsächlich, um sie ihm eines Tages vorrechnen zu können. Was er ununterbrochen tut: das Konto ›Geistliche und Ordensangehörige im Kriege‹ wird hier noch dauernd präsentiert. Da steckt nun wirklich die Quelle einer die Tatsachen bewußt entstellenden Haß-Propaganda. In diesen Kreisen ist auch die etwas blutrünstig ausgemalte Greuel-Sage noch am Werk, die immer nur den Gegner sieht, von aufgespießten Witwen und Waisen spricht und den protestantischen Staat des Feindes meint – diese Gefahr ist nicht akut, aber schleichend vorhanden.

Betrachtet man das Ganze, so ist sie klein.

Ich halte, zusammenfassend, die Jugenderziehung in Frankreich für national, aber nicht für nationalistisch.

Der Studienrat erlaube mir zum Schluß eine kleine Anmerkung. Er schreibt: »Wenn diese Bücher in irgend nennenswertem Maße in französischen Schulen gebraucht werden, dann kann tatsächlich von einem Abbau des Hasses auf französischer Seite nicht gesprochen werden, und dann wäre es würdelos, wenn wir die Hand ausstrecken[437] wollten, gewärtig, daß hineingespuckt wird.« Nun, das wird nicht geschehen. Jeder, ausnahmslos jeder ehrliche Kenner des heutigen Frankreichs weiß, daß es tatsächlich unmöglich ist.

Aber ich setze den Fall, Frankreich wäre so geartet, wie (nicht mein Briefschreiber, aber) sich der Stammtisch zu Belgard in Pommern das vorstellt. Ist der wirklich würdelos, der die Hand zum Frieden ausstreckt? Man wird sich auf jene Sätze Schopenhauers besinnen, der unsere Ehre niemals vom Verhalten des andern abhängig macht, sondern immer nur von unserem eigenen. Selbst wenn der andere spuckt, haben wir uns nichts vergeben – das ist ein Korpsstudenten-Standpunkt – immer nur der Speiende sinkt.

Frankreich ist ein Land, das schwer zu behandeln, in das einzudringen außerordentlich diffizil ist. Das wird aber nicht nur lohnend, sondern auch im Interesse eines europäischen Zusammenlebens notwendig und durchaus möglich sein.

Ich habe hier so viel guten Willen gesehen, zu einer Verständigung zu kommen, daß ich nur raten kann, mit dem Maximum von Verstand, Takt und Geschicklichkeit – und mit einem absoluten Minimum an dem, was man so gemeinhin nationale Würde nennt, für eine Annäherung zu wirken.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 12.05.1926.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 436-438.
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