Du hast ein Bett

[414] Auf dem Nebengeleis, in Bayonne, rangieren zwei Männer einen Güterwagen, pfeifen und schwenken eine Fahne, springen dem Rollenden auf den Leib und hüpfen wieder ab . . . Übrigens habe ich noch keine Wohnung in diesem überfüllten Laden, und alle Leute drängen schon mit ihren Koffern auf dem D-Zug-Gang und wollen heraus. Was wird das werden –?

Man mag nicht gern in einen Ort fahren, von dem man weiß, daß es schwer ist, unterzukommen. Hier ists besonders schauerlich: denn gleich von nebenan, aus Biarritz, kommen die Minderbemittelten, die da nur am Tage mondän sind, und wohnen in Bayonne. Kein Bett frei. Schließlich lande ich wieder beim Hotel Terminus, das im Bahnhof liegt, und der Mann an der Theke empfiehlt mir ein Häuschen, ein Stübchen, ein Bett . . .

Bis dahin sah ich die Stadt an, in unbehaglich frierende Haut gehüllt. Die Adour und die Arkaden und die Basken – alles sehr schön und gut, aber welche Wanze wird mich heute nacht beißen? Das war gar nicht romantisch, aber so war das.

Nein, so ist das immer.

Landschaftsschönheiten und tröstende Auskünfte und freundliches[414] Schultergeklopfe und herzinnige Kopfnicker – du hast ein Bett, ich habe noch keines. Neid noch auf den letzten Kohlenträger – er ist hier eingeschaukelt.

Schließlich werde ich eins finden. Aber wenn ich es nicht bezahlen könnte, wenn ich Hunger hätte? Was nützten mir da liebe Auskünfte, vollbärtige Ratschläge, tröstende Bibelsprüche, gesalbte Leitartikel? Sie machen mich nicht satt, und ich höre nur immer heraus: Du hast ein Bett, du hast ein Bett, ich habe keins.

Woher denn vielleicht diese merkwürdige Gleichgültigkeit der arbeitslosen Klassen den feinem Postulaten der Kunst gegenüber herrührt; sie haben so gar kein Verständnis für die Adjektiva bei Proust! Und wie undankbar sind sie! Sage ihnen, daß Deutschland wieder empor müsse – sie verstehen dich nicht. Sage: wir alle wollen untergehn, wenn der Staat nur gerettet wird – sie bleiben stumm. Setze ihnen die ökonomischen Grundlagen der Krise auseinander: sie blicken verloren in die Weite und hören auf das Knurren eines Magens, der ihr eigner zu sein scheint. Kurz: undankbare Geschöpfe.

Aber immer, wenn ich Präsidentenreden, Wohltätigkeitssprüche, patriotische Rote-Kreuz-Damen, abwiegelnde Sozialdemokraten, Zahlabendbonzen und Reichstagsabgeordnete höre, tönt eine angeschlagene Saite in mir fort, ein lang hinhallender Ton wie von einer Stimmgabel: Du hast ein Bett, du hast ein Bett. Wir frieren.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 20.04.1926, Nr. 16, S. 634.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 414-415.
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