Tschechen und Russen

[477] Ich kann zwei schöne Bändchen aus der verdienstvollen Malik-Bücherei (im Malik-Verlag zu Berlin) anzeigen: tschechische Lieder und russische Revolutionserinnerungen.


Übertragungen aus der slawischen Sprache sind selbstverständlich immer Nachdichtungen. Diese scheinen mir geglückt. Auf eine sehr gute Einleitung von F. C. Weiskopf folgen Gedichte der jüngern tschechischen Literatur, darunter das wunderschöne ›Ritten, ritten Adjutanten...‹ von Frana Sramek, das im Ton – bis auf manches Reimwort – so nachgeschaffen ist, als habe es Roda Roda unter den Fingern gehabt.


Ritten, ritten Adjutanten

wie der Wind.

Melden, daß die Rebellanten

wieder auf den Beinen sind.

Schlag die Trommel, Trommler,

rühr die Schlegel strack,

daß wir heut nicht schonen

Rebellantenpack.


Und so noch viele. Am schönsten darunter die Volkslieder. Ein paar Perlen: ›Böhmisches Rekrutenlied‹, ein ›Mährisches Volkslied‹ und ein slowakisches. Das slowakische ist so traurig wie eine alte Melodie . . .


Das andre Bändchen ist von Wera Figner und heißt: ›Das Attentat auf den Zaren‹. Da erstarrt einem allerdings das Blut.

Die Frau, die heute noch lebt (und deren Erinnerungen übrigens gleichfalls im Malik-Verlag erschienen sind), schildert hier Vorgeschichte,[477] Vorbereitung und Ausführung der Attentate aus den Jahren 1875 bis 1883. Das ist denn doch was andres als diese trüben Gesellen aus den nationalen Verbänden. Die haben Geld, Auslandspaß, Hilfe bei allen offiziellen und privaten Stellen, ein mit ihnen sympathisierendes Land – hier: Askese, übermenschliches Leiden, Not, Hunger, Verrat auf allen Seiten, ständige Todesgefahr. Denn die russischen Richter waren wie die deutschen, nur behandelten sie schuldige Terroristen wie unsre Richter die Kommunisten, bevor die noch etwas ausgefressen haben. Im Hintergrund blitzt Sibirien auf. Und schlimmer: die Schlüsselburg.

Wie da das kleine Häuflein der Terroristen arbeitet, wie sich der Charakter, die Opferwilligkeit, der fast mönchische Verzicht auf das Leben vereinen, um für die Idee zu wirken: das packt und ist Vorbild in einem Lande, wo es noch dem traurigsten Schiffahrtsdirektor hoch angerechnet wird, wenn er das ›Opfer‹ bringt, den Reichskanzlerposten zu übernehmen. Von gewissen Sozialdemokraten ganz zu schweigen, die sich still in die Ecke zu verkriechen haben, wenn von diesen Männern und Frauen, von echten Helden die Rede ist.

Das Vorwort verhehlt nicht, wie der Bolschewismus zu ihnen steht. Er billigte diese Einzelaktionen nicht, er achtete die Täter. Und Wera Figner hat das gradezu phantastische Schicksal gehabt, die Öffnung der polizeilichen Geheimarchive noch zu erleben, was ihr das eigne Leben nun von der andern Seite noch einmal zeigte. Was müssen das für Stunden gewesen sein, als sie in Akten und Spitzelberichten alles noch einmal durchlebte: als sie erfuhr, wer verraten hatte, und wem die Bewegung dieses Opfer und jenen Mißerfolg zu verdanken hatte . . . !

Voll Trauer legen wir das Büchlein aus der Hand. Bei uns werden keine derartigen Archive geöffnet, weil das nicht ›opportun‹ ist; wir behalten dieselben kaiserlichen Beamten in der Regierung, weil sie doch ›die Verordnungen‹ so schön kennen, und so hat jedes Land, was es verdient: das eine seine Bestimmung und das andre seine Bestimmungen.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 17.08.1926, Nr. 33, S. 273.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 477-478.
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