Wiedersehen mit Paris

[347] »Zu Hause« sagt das kleine Hotel, in dem ich vor drei Jahren angefangen habe; »zu Hause« sagen die quietschenden Bremsen der Autobusse; »zu Hause« die Apparatur des Essens mit den süßen und belanglosen Zeremonien um jeden Salatteller . . . wie geölt geht das alles. Da bin ich wieder. Und ich sehe mich um.


Unverändert. Wenn man nach zehn Jahren hierher käme, so könnte man wahrscheinlich geschlossenen Auges in dieselben Restaurants, dieselben Läden, dieselben Tabacs gehen – da wären noch dieselben Kellner, dieselben Portiers, dieselben Freuden, Klatschereien – hier ändert sich scheinbar nichts. Der nonchalante Trott der Straßen ist noch da –, langsam gehe ich alles ab, ob es auch noch da ist: die Place Dauphine und der Schutzmann mit dem wehenden Windbart an der Porte Saint-Denis und das Möbelhändlerviertel und die Kleiderbörse und die französischen Amerikaner in der rue Saint-Honoré und die Hure mit dem Stelzbein und die kleinen Boote auf der Seine . . . Es ist alles noch da. Vorhanden ist das Paris der Tangente, das Rad der Zeit rollt an der unabänderlichen Linie der Tradition entlang, und da, wo sich die beiden berühren: da liegt Paris. Hinter dem Hispano fährt eine Kutsche, richtig eine lackierte Equipage aus der Zeit, wo feinere Hausärzte in so etwas fuhren: darin sitzt eine ganz alte dicke Katze in Menschengestalt einer schlaff aufgeblasenen Erbtante, in einem unmöglichen Kostüm, starr sitzt sie, ein Vermögen bebrütend, auf das sicherlich zehn Anverwandte warten, die von ihr maßlos schikaniert werden . . . Vorüber. Nun suche ich eine Wohnung, da tut sich auf einmal die ganze Stadt auf; schlecht gelüftete Schlafzimmer öffnen sich, ausrangierte Damen lächeln im Morgenrock – »Vous allez nous excuser, monsieur – nous sommes en train de . . . « Immer sind sie en train de, so sieht es auch aus.

Wenn man mit ihnen unterhandelt, fällt dem Deutschen auf, was ihm auffallen muß. Ich verhungerte in Paris – nie könnte ich hier auch nur einen Sou verdienen. Hier kann man schwer verdienen, aber leicht leben. (In Berlin scheint mir das umgekehrt.) Sie haben ein Telefon, das ein Witz ist, aber ein schlechter – und sie haben so viel Zeit. Nein, sie haben überhaupt keinen Sinn für Zeit – es ist vielleicht möglich, in Frankreich alles durchzusetzen – nur eines darf man nicht: man darf nicht eilig sein. Sie sind grade nicht zu Hause, oder sie sind nicht aufgelegt, oder sie brauchen den Anlauf – unmöglich, hier in ein Zimmer zu treten und grade heraus zu sagen, was man will. Was in Deutschland kaufmännische Tugend, wäre hier eine dicke Unmöglichkeit. Am besten, wenn man sehr viel Zeit hat und erst einmal mit dem Mann seiner Wahl frühstücken geht. Ah, es ist ihm nicht um das Geld! Aber nach dem Fisch wird er aufgekratzt, und beim Kaffee ist er umgänglich,[347] auch in Geschäften, grade in Geschäften – beim Kaffee werden die meisten Abschlüsse gemacht, nicht im Büro. Es ist alles so anders –.

Wenn man zwei Monate in einem fremden Land lebte, versteht man es gewöhnlich herrlich – es ist ja so klar . . . Dann wirds dunkler, und ich befinde mich zur Zeit in jener Periode, die jeder kennt, der reist –: ich verstehe fast gar nichts mehr. Alles, was ich gelernt habe, kommt mir falsch vor – alles, was ich von den Franzosen weiß, zu wissen glaube, geschrieben habe, dünkt mich schief . . . Ich tappe so herum. Was ist das für ein Volk?

Griechen mit einem Zopf?

Etwas Ähnliches ist es schon. Und wie bei den Chinesen und wie bei den Griechen ist es nicht so sehr eine Zollunion, nicht so sehr eine durch Militär oder Verwaltung zusammengehaltene Sache, sondern ein fester Kulturkreis, in den nur eindringen kann, wer seine Geschichte, seinen sprachlichen Unterbau und seine Literatur genauestens kennt. »Ihr seid alle Zaungäste« hat Morus einmal zu uns gesagt, als er noch in Paris war. Und er hat so recht.

Es gibt hier drei oder vier wirklich tüchtige und kenntnisreiche Journalisten – aber wir stehen doch allesamt vor dem Gitter und sehen zwischen den Stäben hindurch. Das liegt nicht nur an dem Widersinn, mit dem die großen Verlage ihr Geld zum Telefon hinauswerfen, gierig diese sinnlosen ›Nachrichten‹ sammelnd, Fetzen, mit denen kein Mensch etwas anfangen kann, der die Zusammenhänge nicht kennt. Was da zusammentelefoniert wird, geht monatlich in die Zehntausende – wird zu Hause mit einer schönen dickzeiligen Überschrift versehen und hat mit Frankreich auch nicht das leiseste zu tun. Ein Reporter könnte hier viel ausrichten – dazu brauchte er in erster Linie einen Salon. Erst, wenn er ein Haus aufmacht und dazu gehört, lebt er mit; erst wenn er mitlebt, kann er mitreden. Es ist kein Zufall, daß die französischen Arbeiten Kischs, der doch auf seinem Gebiet eine Nummer ersten Ranges ist, zu seinen schwächsten gehören. Was der Impressionist hier mit den Augen von außen nehmen kann, ist oft amüsant, niemals erschöpfend. Das ist ein verwickeltes Land . . .

Aber so sehr ich auch zur Zeit im Dunkeln tappe, eins weiß ich gewiß –: daß nämlich nichts so schauerlich ist wie das Getue der Snobs, die dieser Stadt herablassend auf den Popo klopfen, die sie falsch vertraulich duzen, die so tun, als ob . . . Diese verkehrten Betonungen, diese falschen Töne – welch Aufwand um dumme Einzelheiten! Jedesmal, wenn ich sehe, wie in Berlin, besonders bei den Kunstfritzen, irgend eine pariser Sechserware mit feiner Miene abgeschmeckt wird, immer nach der Melodie: »Ätsch – das habe ich entdeckt, ich, ich, ich – und du hast es noch nicht«, dann wird mir angst und bange, wie weit es doch von Paris bis Berlin ist. Affen, die mit dem fortgeworfenen Kamm der gnädigen Frau spielen und sich einbilden, zum Hause zu gehören.

[348] So kommt man nicht herein. Der einzige Curtius hat neulich einmal darauf hingewiesen, wie der Franzose aus seiner Literatur zitiert – aber es ist viel mehr als ein Zitat. Es ist die stillschweigende und absolute Voraussetzung der gleichen Bildung, der gleichen Bildungsstoffe, der gleichen literarischen Jugenderlebnisse – sind die nicht vorhanden, fühlt er die Fremdheit. Man ist ihm gleich viel näher, wenn man expressis verbis auf den gemeinsamen stock zurückgreift. Es genügt manchmal, wenn man das gleich ihm fühlt. Und wenn ich mich keine Minute in der Comédie Française zu Hause fühlen kann, so beweist das alles gegen mich und nichts gegen den Kunstausdruck von Millionen. (Angefeindet von Zehntausenden – es beweist nichts.)

Wo bist du, Frankreich –?


Ein kleines Stückchen war neulich abend auf den Boulevards.

Sacco und Vanzetti sind, nach unmenschlicher Qual, zu Tode geröstet worden, und nun verprügelte die eine Hälfte der Leute auf den Boulevards die andre; ich habe vergessen hinzuzufügen, daß die Prügelnden kostümiert waren. Der Präfekt von Paris und der französische Innenminister, Sarraut, hatten jede Demonstration verboten, und weil unter den Manifestanten auch wirklich üble Burschen waren, die Schaufenster einschlugen und vor lauter Justizempörung Waren klauten, so wußte schon nach einer halben Stunde kein Mensch mehr, warum er da eigentlich auf den großen Boulevards herumgestoßen wurde und stieß. Es fing ganz gemächlich an – aber schon um zehn Uhr waren viele Uniformkragen oben ein bißchen aufgehakt, und in den Augen lag jenes böse, kalte Glitzern, das wir so gut kennen . . . Nun, was Hauen angeht: das können sie. Der Schneid, mit dem ein Trupp die Straße schräg überschritt, an der Spitze ein Mann mit gesticktem Käppi: »Nun wollen wir sie dreschen . . . « Und das taten sie denn auch.

Blutrot leuchteten die Reklamen an den Fronten der Läden.

LANCEL

stand auf einer. Lancel –? Das ist ein Lederhändler, der, als er vom Verrat seiner Frau erfuhr, hinging und den jungen Herrn, bei dem sie grade stak, in dessen Garçonnière erschoß.

Totschlag oder Mord? Er hatte sich vorsorglich einen Revolver eingesteckt, er war sehr entschlossen da heraufgestiegen . . . Die beiden Italiener mußten fort. Ihn haben sie freigesprochen. Ja, Lancel, das ist ganz was anders . . .

Nichts widerstrebt einem Lande so, einem Staat so, wie: kühl und marxistisch beurteilt zu werden. Da wehrt sich alles, da bäumt sich alles auf: Romantik, Staatsräson und ein Intellektuellentum, das es gar nicht kompliziert genug haben kann; im Dunkeln ist gut munkeln. Aber es hilft alles nichts:

Wer einmal das Skelett des Staates gesehen hat, der vergißt es nie[349] mehr. Vergißt nie, wie schmal die Kante der ›Freiheit‹ ist, auf der sie alle balancieren dürfen; wie dürftig diese verlogene Demokratie, die von gesicherter Position der okkupierten Presse, der besetzten Kirche, der eroberten Kinos, der fest am Band gehaltenen Schule den armen Ludern eine Freiheit läßt, die keine mehr ist. Kein Gran wird nachgegeben, wenn es sich um Schankstättengesetz und Strafrecht, um Kriegsministerium und Polizeifonds, um Konkordat und Agrarsteuer handelt – aber den guten Demokraten gehen die Augen über, wenn sich das Reichsbanner, diese pathetische Ideenlosigkeit, zu Fackelzügen vereint. Wie viel guter Wille, wie viel Tapferkeit, wie viel ehrliche Jugend wird da mißbraucht! »Nieder mit dem Einfuhrzoll!« – das ruft keine Masse. »Es lebe die Republik!« – das verpflichtet zu gar nichts.

Guten Tag, Paris. Ich kenne das Skelett und liebe dich doch. Kann ein Frauenarzt noch lieben?

Aber sehr, hörte ich.

Und es ist vielleicht die tiefste und stärkste Liebe, die einer lieben kann: die unromantische, klar erkennende und doch verehrungsvolle Zuneigung, eine gleichmäßig brennende Leidenschaft zur schönsten Stadt der Welt.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 18.10.1927, Nr. 42, S. 597.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 347-350.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon