Das Gesetz

[199] Mann und Frau und Frau und Mann –

nach dem Happy End fängt ihr Leben erst an . . .

Wohnungsnot und Herzensnot

machen manche Ehe tot.


Warum

läßt man sich denn nicht scheiden?

's fehlt an Geld – und der Schmutz und der Schmutz . . .

Und so zerrinnt das Leben beiden –

so wie sie, sind hunderttausend ohne Schutz . . .


Und unterdes –

da sitzen sie im Reichstagshaus

und knobeln sich neue Gesetze aus;

ein gutes für Scheidung ist nicht dabei –

Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei?

Hört ihr den Schrei?

Paragraph 5, Ziffer 4, Absatz 3.


»Hör mal, Willy – jetzt ists aus!

Noch ein fünftes Kind hat keinen Platz im Haus!«

»Heul nicht, Liese, das hat keinen Sinn . . .

hier hast du ne Adresse – geh mal hin!«


Die Olsch, die macht das im Tarife –

aber schlecht – und die Frau geht ein.

Dann setzt es anonyme Briefe,

und vier Kinder sind nun ganz allein . . .


Und unterdes –

da sitzen sie im Reichstagshaus

und knobeln sich neue Gesetze aus –[199]

Für manche ist die Frau eine Milchmeierei –

Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei?

Hört ihr den Schrei?

Paragraph 5, Ziffer 4, Absatz 3.


Kleiner Dieb, der wird gehängt –

großer Verbrecher kriegt noch was geschenkt.

Wer da ausbrennt Kriegessaat –

das nennt der Richter Landesverrat.


Zehntausend warten ungeduldig

in den Zellen, geduckt wie ein Tier . . .

Die sind vorm Paragraphen schuldig

– aber Menschen, Menschen wie wir! –


Wach auf, wach auf, Barmherzigkeit!

Ein neuer Ton – eine neue Zeit!

Recht und Recht sind immer zweierlei . . .

Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei?

Hört ihr den Schrei?

Macht euch frei!

Macht euch frei!

Macht euch frei!


  • · Theobald Tiger
    Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1929, Nr. 41.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 199-200.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon