Die Weiße mit'm Schuß

[66] Das war in den ersten vierzehn Tagen in Paris – da verlangte ich in einem für mich viel zu feinen Lokal einen ›Claquesin‹. Ich hätte das nicht tun sollen. Der Claquesin ist ein Aperitif, der etwa schmeckt wie flüssige Teerseife, einen Schuß pikanter. Der Kellner sah mich väterlich-strafend an, ein bei französischen Kellnern nicht alltägliches Vorkommnis. »Pas de goudron«, sagte er; wir haben keine Teergetränke, ich trank artig eine Zitronensache, und alles war gut.

Nun ist der ›Claquesin‹ nicht gerade das Leib- und Magengetränk der Pariser. Aber haben Sie einmal in einem feinen berliner Lokal eine Weiße mit 'm Schuß bestellt –? Das wäre beinah so mutig, wie wenn wir beim Friseur durchzusetzen versuchten, er solle uns die Haare so schneiden, wie wir es wollen . . . das gibts nicht. Und in einem feinen berliner Lokal gibt es keine Weiße. Warum eigentlich nicht?

Die Berliner Weiße ist so recht das Getränk dieser Stadt, und zwar im allerbesten Sinne: angenehm säuerlich, erfrischend, die aufgepappte Süße des Himbeersaftes paßt nicht recht dazu, färbt die Sache aber angenehm rot – warum in aller Welt verleugnet Berlin sich selbst?

Aus Abscheu gegen den Alkohol? Das sind doch Sprüche; so vernünftig es ist, im Sommer keinen Alkohol zu trinken, hier liegt nicht[66] der wahre Grund. Der wahre Grund ist: die Weiße gilt nicht als fein; vielleicht ist sie es auch nicht, aus Silberbechern kann man sie nicht trinken, auch hat sie für empfindliche Mägen eine laute Folgeerscheinung, die . . . pardong.

Jedoch müssen wir amerikanische Trinkstuben haben und ungarische Weinzimmer – aber Berlin verleugnet sich. Es ist sich nicht fein genug.

Nur einmal – so um den Februar herum – bindet sich der Kammergerichts-Referendar einen roten Schlips um, setzt sich eine alte Reisemütze auf und geht auf den Zille-Ball. Berlin ist nie unberlinischer, als wenn es berlinisch sein will. Das ist sehr schade.

Diese Kolonialstadt hat ein bißchen viel Österreich in sich aufgesogen und Prag, allerhand Landsleute aus dem Reiche, die ihm erzählen, wie es sich aufzuführen habe. So wird die Luft sachte verfälscht. Und wenn auch die Berliner Weiße nun grade kein Kulturobjekt ist, so ist sie doch die schöne Allegorie einer Stadt, die sich so selten zu sich selber traut. In Jahrhunderten hat der Deutsche immer nach dem Fremden geschielt und es als ›fein‹ empfunden – nur weil es das Fremde ist. Na, wir brauchen uns wohl nicht zu erzählen, daß wir keine Chauvins sind . . . aber warum ist eigentlich der Begriff Berlin für so viele Menschen immer nur ein Ding dritter Klasse?

›Wie‹ New York wollen sie sein. Und ›wie‹ Paris. Und wie ich weiß nicht was alles – statt erst einmal sie selber zu sein, wobei eine Menge zu gewinnen und wenig zu verlieren wäre. So ist die gute alte berliner Familie vor die Hunde gegangen, genau wie so vieles andere, weil die Herren keine Zeit mehr gehabt haben – jede Überlieferung aber will Zeit und Muße und Geduld. Es ist merkwürdig: diese große Stadt hat viel weniger Ausdrucksmöglichkeiten ihrer selbst, als man annehmen sollte. Ihr Ausdruck wird verfälscht.

›Von Stadt wegen‹ ist überhaupt nichts zu spüren. Man muß sehen, wobei sich die Stadt vertreten läßt und von wem – es ist beschämend. Wenn sie irgendeine Summe »zur Förderung der schönen Künste« auswerfen, hat man immer das Gefühl, als habe sie jemand nach vorn gestulpst – sie wollen das eigentlich gar nicht. Für das Echte, das wirklich Berlinische, hat die Stadt wenig oder gar keinen Sinn. Was tut Berlin für unsern Vater Zille? Der eben erwähnte Kammergerichts-Referendar gibt ihm auf diesen dummen Bällen zu verdienen – und ich will gewiß für den großen Zeichner nicht betteln gehn – aber ist es zu glauben, daß die Stadt für diesen Mann, der die reinste Inkarnation Berlins verkörpert, nichts, aber auch nicht das leiseste, tut?

Was in Berlin wirklich berlinisch ist, ist kaum gekannt, und wenn es bekannt ist, wird es mit einem leisen Lächeln der Überlegenheit abgetan, weil wir doch gerade von der Riviera kommen . . . Wie[67] unsicher ist das alles, wie ewig unfertig! Wie flau! Berlin liegt nicht an der Spree; es liegt am laufenden Band.

Die Stadt traut sich nicht zu sich selbst. Was da östlich vom Spittelmarkt liegt, ist dem Westen, der der Stadt den literarischen Ausdruck gibt, terra incognita, und bei denen, die den Begriff Berlin berufsmäßig darstellen, überwiegt auch noch der Nichtberliner in so starkem Maße, daß kein echtes Bild entstehen kann. Der Pariser bekennt sich zu Paris, der Londoner zu London – nur der Berliner rückt ab von seiner Stadt, weil sie ihm nicht fein genug ist, und er ist viel, viel weniger Berliner, als der Provinzler, der ihn bekämpft, ahnt.

Ick wer da sahrn: die markieren Weltstadt, det is ja janz scheen, is ja ooch ne jroße Stadt, ja doch – aber wat so richtig Berlin is, weißte, diß, wo ein warm wird, wenn man schon von hört, diß, wovon wir jesprochen ham, wie wir inn Untastand von zu Hause assehlt ham – da heerste nischt von. Wie oft ham wir inn Kriech jesacht: Mensch, noch einmal ne richtige Berliner Weiße, so eine, wot dir nachher in de Neese kribbelt, bis daß du kannst richtig aufstoßen . . . Frach mah den Obabürjermeesta Boess – 'ck jloobe, der hat noch nie in sein Lehm ne orntliche Berliner Weiße ausn richtijen Jlas jetrunken – na, denn Prost –!


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 19.05.1929, Nr. 233.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 66-68.
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