Unerledigte Konten

[207] Als Kind – so um 95 rum –

da war ich bei Tante Jenny

zur Kindergesellschaft eingeladen,

mit Fritz und Ellen und Männi.

Ja.

Und da hats Sahnenbaisers gegeben,

jeder hat eins bekommen;

und dann wurde noch mal herumgereicht –

und ich hab keins mehr genommen!

Das hat mich noch jahrelang geplagt . . . !

Ich hätte sollen . . . und hab Nein gesagt.


Da hab ich noch eine Braut zu stehn

in Neu-Globsow – die Dame hieß Kätchen;

irgendwas war da . . . die hat so geguckt . . .

doch ich hatte genug der Mädchen.

Ja.

Und dann hat sie mir noch mal geschrieben,

Briefe? Wie? Ist das schön?

Und dann war ich zu faul, und Neu-Globsow ist weit,

und jetzt möcht ich sie wiedersehn.

Wie mich das in leeren Nächten plagt . . .

Ich hätte sollen . . . und hab Nein gesagt.


Da stand ich vor Jahren in Moabit

vor einem Talar, den das freute;

er redete, redete, quatschte und schrie

und redet gewiß noch heute.

Ja.

Und aus einem hier nicht zu erzählenden Grund

hielt ich die ganze Zeit meinen Mund.

Ich mußte. Und habe nichts gesagt.

Aber das hat mich noch oft geplagt!

Mit dem Jungen tret ich gern noch mal an –

nur ein einziges Mal!

aber dann – aber dann –[207]


Ist ja gar nicht wahr.

Wenn heut Kätchen da steht,

das Baiser und der Kerl aus Moabit –:

es ist ja leider alles zu spät!

Es ist immer das gleiche Lied:

Wenn wir was brauchen, dann haben wirs nicht;

und wenn wir es kriegen, dann wollen wirs nicht.

Lieber Gott! sei doch nur einmal gescheit

und gib uns die Dinge zu ihrer Zeit –!

Amen.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 08.10.1929, Nr. 41, S. 562.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 207-208.
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