Ab durch die Mitte

[158] Adolar: »So? Nun gut, dann will ich euch einmal etwas sagen. Hier – ist der Ring Clairchens, dort – ist die Kassette mit den Briefen; ihr, lieben Eltern, nehmt euern Segen zurück! Ich gehe!« (er stürzt ab)

Achte Szene.

Die Vorigen

Altes Stück


Die Welt gibt es gar nicht. Es gibt vielmehr vielerlei Welten: eine Sportwelt; eine politische Welt; eine Kunstwelt; eine Papageienliebhaberwelt; eine medizinische Welt; früher hat es auch einmal eine Halbwelt gegeben, die ist inzwischen um fünfzig Prozent aufgewertet worden . . . viele Welten gibt es. Jede Welt ist überzeugt, daß sie die eigentliche, die richtige, die Originalwelt sei. Wenn man nun aus der von Gott geschaffenen Welt scheiden will, dann kann man das nur so machen, daß man das Leben aufgibt. Für die andern Welten aber besteht ein geradezu erschütternder Satz, der ihre Epoche charakterisiert, ein Satz, der den absoluten Wert dieser Teilwelten höchst dubios macht. Man kann nämlich aus einer Teilwelt aussteigen.[158]

Denken Sie sich: ein wild umkämpfter Theosoph macht plötzlich nicht mehr mit. Vielleicht hat ihm der Arzt jede Aufregung verboten, oder er hat plötzlich zur Kirche zurückgefunden, oder er hat es überhaupt satt –: eines Tages »tritt er aus der Bewegung aus«, so, wie man aus dem Autobus aussteigt, Schaffner, bitte halten, ich bin nun angekommen, ein kurzer Gruß an die Fahrtgenossen – ab durch die Mitte. Und nun geschieht etwas höchst Seltsames:

Wenn er nicht will, dann erreicht die Bewegung ihn nicht mehr. Er ist wirklich ausgestiegen – er ist heraus.

Das ist nicht immer so gewesen. Aus der katholischen Welt des vierzehnten Jahrhunderts gab es keinen europäischen Weg ins Freie – das Freie war gar nicht da. Es gab wohl Katholiken, die es mit der Religion innerlich nicht so genau nahmen; es gab Lasche, Sünder, Zweifler; es gab verkommene Menschen, die sich höchstens einmal an ganz besonderen Feiertagen lumpenbedeckt und schüchtern in eine Kirche wagten; es gab Gebirgsbauern, die nur eine sehr dünne Vorstellung vom Christentum hatten, weil sie ihren Pfarrer nur einmal im Jahr oder seltener sahen – alles gab es. Aber Aussteigen –: das gab es nicht.

Denn die damalige religiöse Welt war, für ihre Zeit und geographisch begrenzt, die einzige – sie hatte keine ernsthafte Konkurrenz. Abwandlungen waren da; etwas außerhalb der Szene Gelegenes nicht.

Heute kann man von dem einen Trambahnwagen in den andern umsteigen, als wäre nichts gewesen.

Da hat einer das halbe Theater und die ganze Kunst mit seinen Theorien revolutioniert; heute sitzt er auf einer stillen Insel an der italienischen Küste und spielt nicht mehr mit. Die Kunst gilt ihm nichts mehr; und sie ist nicht mächtig genug, sie kann ihn nicht erreichen, er spürt sie nicht . . . er ist davongegangen, er ist entwischt. Denn man kann entwischen.

Rudolf Rittner hat auf der Höhe seines Ruhmes aufgehört, Theater zu spielen. Denkbar, daß ein großer Mathematiker plötzlich alles hinwirft und nicht mehr mitmacht. Ein Arzt kann das Operationszimmer verlassen. Ein Schachspieler die Welt des Schachs. Ein Politiker die Zimmer des Reichstags. Ein Philosoph die stillen Diskussionsfelder der gelehrten Streitigkeiten. Ab durch die Mitte.

Die Zurückgebliebenen können das nicht glauben. Sie wollen es auch nicht wahrhaben. Sie können und wollen sich nicht vorstellen, daß man ihre kleine Spezialwelt wirklich verlassen kann, daß man ihre Zeitschriften nicht mehr liest, ihre Kämpfe nicht mehr mitkämpft, keinen Anteil mehr nimmt . . . daß man endgültig Schluß gemacht hat. Aber doch geht es.

Davon gibt es nur sehr, sehr wenige Ausnahmen. Ein russischer Sozialrevolutionär, der im Jahr 1913 das Parteileben hinter sich liegen ließ, kann damals gesagt haben: »Ich interessiere mich nicht mehr[159] für Politik«; die Ereignisse sagten zu ihm ein paar Jahre später: »Aber die Politik interessiert sich für dich«, und er bekam etwas Weltgeschichte zu spüren, ob er wollte oder nicht. In den meisten Fällen aber kann man ungefährdet aussteigen, nicht mehr mitmachen, alles hinter sich lassen. Flüche hallendem Verlassenden nach, Bedauern, Gedenken, Erinnerung, Segenswünsche . . . aber die Teilwelt umspannt ihn nicht. So weit reicht ihre Macht nicht.

Und weil ja nicht, wie die Spezialisten glauben und glauben müssen, jeder Ast des Lebens der ganze Baum ist, und weil es dem Vogel gleichgültig ist, ob er auf diesem Zweig sein Liedlein singt oder auf jenem –: so wird die Ohnmacht der aufgeteilten Welt nirgends deutlicher als hier. Ist jemand so reich (oder so gleichgültig), daß er das Experiment wagen kann, das Feld seiner Tätigkeit, der Gedanken und der Kämpfe zu wechseln, dann läßt er die alten Genossen hinter sich, als wären sie nie gewesen. Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder . . . bye, bye . . . auf Wiedersehn! Auf Nimmerwiedersehn.

Daß man aussteigen kann . . . Daß man es kann . . . Und dann die Stille und die Abgeschiedenheit . . . und dann nichts mehr . . . Was muß das für eine Welt gewesen sein? Und dann erst erkennt der Geschiedene:

Deine alte Welt hat nicht die ganze Welt erfaßt. Es ist eine Teilwelt gewesen. Es gibt Hunderttausende und Millionen, die ahnen kaum etwas von ihr, und sie leben auch und sind glücklich und unglücklich und lieben und hassen und werben und gehen dahin – ohne etwas von deinem Kram gewußt zu haben, mit dem du dich so intensiv befaßt hast. Und was hast du geglaubt?

Du hast geglaubt: Wer deine Polemik nicht gelesen hat; wer diesen Streit zwischen den beiden philosophischen Schulen nicht kennt; wer nicht weiß, was diese Büste auf der letzten pariser Auktion gebracht hat; wer dieses Konzert nicht mitangehört hat; wer sich in diesem politischen Streit nicht für und wider entschieden hat –: der ist kein Mensch.

Siehe es war ein Irrtum. Du, Spezialmensch, hast dafür und darin gelebt – die andern nicht. Dein Herz hat bei der Nennung jenes Namens schneller geschlagen – das der andern nicht. Du warst befangen, gefangen . . . die andern waren diesbezüglich frei. Sie staken in andern Käfigen, dein Spiel spielten sie nicht mit. Gegen nichts aber wehren sich alle so, wie gegen diese fatale Tatsache, daß man ihre Welt wie einen Topf hochheben kann; daß sie begrenzt ist, und daß man aussteigen kann. Ohnmächtig hallt der Exkommunikationsfluch hinter dem Aussteigenden her – er dreht sich nicht einmal mehr um.

Wenn er klug ist, lernt er in neuer, freiwilliger Bindung, was das ist: Freiheit.

Wenn er weise ist, wird er frei.


  • [160] · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 12.06.1930, Nr. 272.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 158-161.
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