Dein Lebensgefühl

[268] Dein tiefstes Lebensgefühl –

wann hast du das gehabt?

Mit einem Freund?

Immer allein.

Einmal, als du an der Brüstung des Holzbalkons standest,

da lag das Schloß Gripsholm, weit und kupplig,[268]

und da lag der See

und Schweden,

und die staubige Waldecke –

und auf der dunkelgrün etikettierten Platte sang ein Kerl im Cockney-Englisch: »What do you say . . . ?«

und da fühltest du:

Ich bin.

So war dein Lebensgefühl.

Mit einer Frau?

Immer allein.

Einmal, als du nachts nach Hause gekommen bist

von einer vergeblichen Attacke

bei der großen Blonden,

elegant-blamiert, literarisch hinten runtergerutscht,

gelackt, abgewinkt: danke, danke!

da standest du vor deinem runden Nachttisch

und sahst in das rosa Licht der Lampe

und tatest dir leid, falsch leid, leid

und fühltest:

Ich bin.

So war dein Lebensgefühl . . .

In der Masse?

Immer allein.

Es ist so selten, das Lebensgefühl.

Casanova hatte es einmal.

Vierter Band.

Er sieht bei seiner Geliebten Rosalinde

zwei Kinder, die er ihr vor Jahren gemacht hat,

schlafend, in einem Bett, Mädchen und Knabe.

Sie zeigt sie ihm,

hebt die Bettdecke hoch, die junge Sau,

die Mutter,

um ihn anzugeilen,

um ihm Freude zu machen,

was weiß ich.

Und er sieht:

wie der Knabe im Schlummer seine Hand auf den Bauch des Mädchens gelegt hat.

»Da empfand ich«,

schreibt Casanova,[269]

»meine tiefste Natur.«

Das war sein Lebensgefühl.

Verschüttet ist es bei dir.

Du wolltest leben

und kamst nicht dazu.

Du willst leben

und vergißt es vor lauter Geschäftigkeit.

Du willst das spüren, was in dir ist,

und hast eifrig zu tun mit dem, was um dich ist –

Verschüttet ist dein Lebensgefühl.

Wenn du tot bist, wird es dir sehr leid tun.

Noch ist es Zeit –!


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 28.10.1930, Nr. 44, S. 663, wieder in: Lerne Lachen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 268-270.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stramm, August

Gedichte

Gedichte

Wenige Wochen vor seinem Tode äußerte Stramm in einem Brief an seinen Verleger Herwarth Walden die Absicht, seine Gedichte aus der Kriegszeit zu sammeln und ihnen den Titel »Tropfblut« zu geben. Walden nutzte diesen Titel dann jedoch für eine Nachlaßausgabe, die nach anderen Kriterien zusammengestellt wurde. – Hier sind, dem ursprünglichen Plan folgend, unter dem Titel »Tropfblut« die zwischen November 1914 und April 1915 entstandenen Gedichte in der Reihenfolge, in der sie 1915 in Waldens Zeitschrift »Der Sturm« erschienen sind, versammelt. Der Ausgabe beigegeben sind die Gedichte »Die Menscheit« und »Weltwehe«, so wie die Sammlung »Du. Liebesgedichte«, die bereits vor Stramms Kriegsteilnahme in »Der Sturm« veröffentlicht wurden.

50 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon