Der Buchstabe G

[271] So heißt, glaube ich, ein russisches Buch – aber das meine ich nicht. Ich meine ganz etwas anderes. Ich meine die Sache mit Onkel Erich.

Also Onkel Erich – hier kann ichs ja sagen, denn Onkel Erich liest die ›Vossische Zeitung‹ nicht; er liest ein hannoveraner Blatt, schimpft furchtbar drauf und glaubt jedes Wort, das drin steht . . . Onkel Erich kam neulich zu uns nach Berlin zu Besuch. Er ist aus Hannover, wo sie das reinste Deutsch sprechen – das allerreinste. Bis auf die Vokale, die sind im Hannoverschen eine Wissenschaft für sich. Man muß lange dran rumstudieren, bis daß man sie raus hat – und das getrübte a, das sie da sprechen, hat mir immer eine ungetrübte Freude bereitet. Unter anderem klingt dort »ei« wie »a«. ( – »Haben Sie Aale?« – »Näö, ich habe getzt Zaat!« – »Nicht doch. Ob Sie Aale haben?« – »Ich säöge doch: ich habe getzt Zaat!« – »Aaale! Den Fisch! Aale« – »Aach, Sie meinen Aeöle! Der Herr sind wohl von auswärts?«) Besitze hierüber ein herrliches Büchlein von Le Singe; auch besitzt das Hannöversche in seinem Dialekt eine der schönsten Anekdoten der Welt (»Schöde . . . Agäöthe ist da gräöde mit los!«) – aber das ist, wie Kipling sagt, eine andere Geschichte. Also: Onkel Erich kam nach Berlin.

Ich bin ein friedlicher Vater, noch einer aus der alten Schule: mit wenig Ödipus, fast gar keinen Hemmungen und etwas Strenge. Ich nahm mir Theochen vor, das ist mein Knabe. Ich sagte: »Theochen!« sagte ich. »Onkel Erich kommt. Du berlinerst, daß es eine Schande ist! Das wirst du nicht tun.« Theochen hat gerade den Stimmwechsel; zur Zeit spricht er wie aus einer alten Kasserolle. »Als wie icke?« sagte das gute Kind. »Ick und berlinern? Haste det schon mah von mir jehört?« – Ich aber sprach sanft und gebot meinem väterlichen Zorn, zu schweigen: »Onkel Erich kann das Berlinern auf den Tod nicht leiden. Er kann es nicht häören . . . wie man in Hannover sagt, wenn man etwas nicht leiden kann. Und ich will dir eins sagen: Wenn du in seiner Gegenwart berlinerst, dann kriegst du die erste große Abreibung, die du in unserem Zusammenleben von mir bekommen hast. Ab!« Theochen aber sprach, und es klang, wie wenn jemand Mäuse in eine Blechbüchse gesperrt hätte und dazu Baß spielte: »Woso kann er denn diß nich leihn? Un wat jeht mir denn det an –?« – »Er kann es eben nicht leiden«, sagte ich. »Und du wirst dich freundlicherweise[271] von heute ab – zur Probe schon von heute ab – nach dem richten, was ich dir gesagt habe!« Theochen ging los, das gute Kind. Nicht ohne dabei ein schönes Lied der Claire Waldoff angestimmt zu haben:

»Berlina Blut –

Berlina Blut is jut!

Berlina Blut –

Berlina Blut is jut!

Doch kommt berlina Blut

mal in die Wut –:

denn haut berlina Blut dir aba mächtig uffn Hut!«

Ja, warum Onkel Erich es nicht leiden konnte, wenn jemand den trauten Dialekt meiner Heimatstadt sprach –: das habe ich nie ergründen können. Es muß da einmal etwas gewesen sein . . . eine zurückgegangene Verlobung mit einer durchaus nicht auf den Mund gefallenen Berlinerin . . . kurz: er konnte es nicht leiden. Aber ›was mir det anjing‹ . . . das wußte ich nur zu genau.

Sie werden lachen: es gibt noch Onkel auf der Welt, die Geld haben. Und es gibt – habe ich mir sagen lassen – noch Neffen, die auf dieses Geld . . . Gott bewahre mich davor: nicht warten! . . . nein, das nicht. Also . . . die froh wären, wenn sie es hätten. Onkel Erich war meiner Frau, meinem Jungen und mir im ganzen wohlgesinnt; das wußte ich. Da war auch ein Testament . . . das wußte ich auch. Aber nun eben dieses Berlinern – ich hatte ein bißchen Angst. Denn das letztemal, vor langen, langen Jahren, als Onkel Erich bei uns zu Besuch gewesen war, da lallte Theochen noch, und gelallt wird in Berlin genau so wie in Hannover. Mir kam ein Gedanke, »Theo!« rief ich.

Er kam. »Theochen!« sagte ich. »Du wirst dich von heute ab üben. Du wirst dich im Berlinischen üben – oder vielmehr im Nichtberlinischen – und ich sage dir: Laß es dir nicht einfallen, in meiner Gegenwart zu berlinern! Vor allem gewöhne dir das häßliche Jot ab!« – »Du lieber Jott!« sagte Theochen. – »Eben nicht! Eben nicht, du Storchenschnabel!« schrie ich. »Es heißt nicht Jott! Es heißt Gott! Gott! Sprich nach!« – »Gott«, sagte Theochen. »Jetzt sag mal: Eine gut gebratene Gans ist eine gute Gabe Gottes.« – »Eine gut jebratene Gans ist eine jute Gabe Jott . . . Gott . . . Jottes . . . « – »Na wart nur!« sagte ich. »Jetzt geh und übe diesen Satz, und ich komme nachher und frage dich ab. Und wenn du mir ein einziges Jot sagst . . . !«

Das war Mittwoch. Donnerstag erschien Onkel Erich. Leider fing die Sache damit an, daß der Träger den Onkel fragte: »Ham Sie Jepäck uffjejehm?« und der Onkel legte nicht schlecht los. Was das für eine Sprache sei; das sei überhaupt keine Sprache, das sei ein tierisches Gebrumme – und er, in Hannover, sei ein ganz anderes Deutsch gewöhnt! Gott sei Dank! Das reinste. Das allerreinste. Ich nickte gottergeben[272] und rechnete geschwind einige große Zahlen aus, die sich ergaben, wenn . . . »Nach welche Jejend wolln Sie denn fahn?« sprach der Kofferträger. Und ich betete zu Buddha, der da sein Auge gerichtet hält auf die niedersten Insekten und auf die Oenkel aller Welt. Und der Onkel lief rot an. Und gab dem Träger kein Trinkgeld. Und da sagte der Träger viele schöne Sachen auf, nicht grade in schierem Hochdeutsch – aber man verstand jedes Wort, und ich rang in meinem Innern die Hände. Doch, das kann man. Und dann fuhren wir. »Eine ekelhafte Sprache!« knurrte der Onkel.

Wir kamen zu Hause an. Ich schloß die Korridortür auf, meine Frau kam gleich heraus, begrüßte den Onkel und nahm ihm die Sachen ab. Der Onkel dankte gerührt. Theo war nicht da. »Theo!« rief ich. Theo kam nicht. »Wo ist denn der Junge?« fragte ich meine Frau. »Theo!« riefen wir gemeinsam, »Der Onkel ist da!« – Und da erschien Theo, wie wenn er auf etwas gewartet hätte, kam, verneigte sich vor dem Onkel und sprach laut und deutlich:

»Der gute Igel Georg geigt auf der Gummigeige!«

»Was sagt der Junge?« fragte der Onkel mißtrauisch. Ich sah den Knaben Theo an . . . ich sah ihn immerzu an . . . »Das ist nur so eine scherzhafte Redensart, um jemand willkommen zu heißen«, sagte ich. »Sag mal Onkel Erich hübsch guten Tag!« Theo machte eine Verbeugung, gab die Hand und sprach: »Es ist gammerschade, daß ich heute meine gute Gacke nicht anhabe. Der Papagei, der Gakob, hat sie mir geruiniert.« – »Da wollen wir ins Eßzimmer gehen«, sprach ich beklommen. »Du wirst Hunger haben, Onkel Erich!« Onkel Erich sah den Theo an, Theo sah den Onkel an. »Ich weiß nicht . . . « sagte der Onkel, während wir ins Zimmer gingen, »ich weiß nicht . . . euer Junge spricht so merkwürdig!« – »Er ist wohl so aufgeregt, vor Freude«, sagte ich. »Er fragt schon den ganzen Tag, wann denn der Onkel kommt!« Nun gibt es keinen Menschen auf der Welt, der nicht stolz ist, wenn ihn ein Hund wiedererkennt, oder wenn sich andere Leute, wie sie sagen, darauf gefreut haben, daß er gekommen ist. Dergleichen hebt das Selbstbewußtsein. »So, so . . . « sagte der Onkel. »Nun . . . das ist aber mal hübsch.« Theo machte abermalen den Mund auf, ich sah ihn an, es half nichts. Er sprach. »Wir haben heute in der Schule einen großen Gux gemacht. Da ist einer, der hat eine Guchhe-Nase, und dem haben wir Guckpulver in den Hals gestreut, und da hat er sich so geguckt, bis er nicht mehr gapsen konnte! Ga.« Nicht umsonst bezeugt mir meine Qualifikation zum Vizefeldgefreiten der Reserve eine rasche Entschlußkraft. »Theochen!« sagte ich. »Komm mal mit Papa raus – da ist noch was zu erledigen, wobei du mir helfen mußt!« Meine Frau sandte einen blitzschnellen, flehenden Blick herüber, der Onkel einen erstaunten – dann schritten wir beide, Vater und Sohn, selbander hinaus.

[273] »Dir ist nicht gut!« sagte ich draußen. »Du wirst jetzt hier auf deiner Stube essen, und wenn der Onkel weg ist, dann kriegst du eine Abreibung, von der noch lange Zeiten singen und sagen werden! Du Lausejunge!« Theo bewegte die Worte des Vaters in seinem Herzen und sprach also: »'ck ha ja jahnischt jemacht! Du hast jesacht . . . « – Und da schloß ich die Tür ab. Und hatte ein langes Verhör zu bestehen . . . »Merkwürdig«, sagte der Onkel. »Ich hatte immer geglaubt, du hättest die Gesundheit von deinem Vater selig geerbt . . . aber das Kind scheint nicht ganz in Ordnung. Gleich wird es krank, vor lauter Freude und Aufregung – und dann spricht es so komisch . . . Hat es denn einen Sprachfehler?« – »Es hat keinen Sprachfehler, lieber Onkel«, sagte ich milde und schob ihm den Marmeladentopf hin. Und wenn der Onkel Marmelade sieht, dann hört er nichts mehr und ist glücklich und zufrieden, und wenn er den Topf bis auf den Grund geleert hat, dann sagt er: »Zu süß!« und sieht sich nach einem neuen um. In meinem Kopf aber tanzten die Zahlen.

Und der Onkel blieb drei Tage in Berlin, und ich sperrte den Knaben Theo immerzu ein. Und wenn sich der Onkel nach ihm erkundigte – in allerreinstem Deutsch, mit herrlich getrübtem A – dann sagte ich, das Kind hätte eine Angina und stecke an. Der Onkel mißverstand den Ausdruck erst . . . aber dann sah er alles ein und ließ Theochen in Frieden.

Aber am dritten Tag, als ich ins Finanzamt mußte, um darzutun, daß ich gar nichts verdiente, sondern ein ganz normaler Kaufmann sei –: da gab es zu Hause ein Malheur, und als ich zurückkam, da war es schon geschehen. Der Onkel packte. »Was ist . . . ?« fragte ich verdattert. »Du willst fort?« Meine Frau weinte. »Was ist hier los –?« fragte ich.

»Keinen Augenblick länger!« rief der Onkel. »Ich komme da nichtsahnend ins Kinderzimmer, da sitzt Theo, da sitzt dein Sohn Theo am Tisch und ist gar nicht krank und hat auch keine . . . also hat auch keine Halsentzündung, sondern hat Besuch und . . . was hat er gesagt?« – Der Onkel sah meine Frau an, ich sah meine Frau an. »Ich . . . ich weiß es nicht mehr . . . « sagte sie stockend. – »Theo!« rief ich. »Komm mal her!«

»Was hast du zu deinem Freund gesagt, als Onkel Erich ins Zimmer gekommen ist?« – Theochen bockte. – »Na?« sagte ich. »Wirds bald?« – »Soll ichs sagen?« fragte er. »Natürlich sollst dus sagen!« Und da sprach Theochen und wechselte dabei vierzehnmal die Stimme:

»Ick ha jesacht: Aus det Jeklöhne von den Olln mach ick mia jahnischt – det is ja nich jefehrlich! Jestern jabs Jans, und den Onkel nehm ick noch alle Tahre uff de Jabel! Det will 'n jebillter Mann sein? Un wenn ick auch jefeffat den Hintern vollkrieje: der Mann spricht ja Dialekt!«

Und da nahm der Onkel seine Koffer und riß die Korridortür auf[274] und stieß mich und meine Frau fort und nahm sich einen Wagen und fuhr zurück nach Hannover, wo sie das reine Deutsch sprechen. Und das Ratschen eines entzweigerissenen Testaments zerriß mir das Herz.

Theochen geht es soweit ganz gut. Er hat nur zwei Tage lang einige Schwierigkeiten gehabt – des Sitzens wegen.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 02.11.1930, Nr. 518.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 271-275.
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