Der Richter

[180] In meinem Buch ›Deutschland über alles‹ steht auch etwas über die Unabsetzbaren zu lesen. Daran nimmt einer der Betroffenen Anstoß, und zwar – anläßlich einer Besprechung des Beradtschen Buches über den ›Deutschen Richter‹ – so:

»Vor einiger Zeit erschien der Aufsatz eines Schriftstellers über deutsche Richter, ihm war eine Zeichnung beigegeben mit dem Bilde eines Mannes im Richtertalar, das statt eines Kopfes ein Paragraphenzeichen trägt. In dem Aufsatz ist die These aufgestellt, man habe das Recht, bei einer Gesellschaftskritik den niedersten Typus einer Gruppe als deren Vertreter anzusehen. Man kann einem Anwalt nicht unterstellen, daß er sich diese These zu eigen machen will, mit der man den Richterstand wie den Anwaltstand, überhaupt jede Berufsgruppe beliebig herunterziehen kann.«

Der Richter, der dies geschrieben hat, gilt als objektiv und reformfreudig. Hoffen wir, daß seine Urteilsbegründungen verständiger sind als dieser Gedankengang.

Zunächst ist der schwere deutsche Aberglaube zu beseitigen, als sei es ein Sakrileg, eine ›Berufsgruppe herunterzuziehen‹ Diese Kollektiv-Ehren, gezüchtet von emsigen Vereinsmeiern und Generalsekretären, kosten heute Stück für Stück einen Groschen. Selbst wenn sich einer beider Beurteilung einer solchen Gruppe irrt, so ist das noch nicht gar schlimm; hinter dieser Anschauung des Richters steckt der schwer ausrottbare Irrtum, als sei der »Beruf« und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe an sich schon etwas Heiliges. Richter sein ist noch gar nichts, Richter sein ist genau so schwerwiegend wie der Entschluß, Jura zu studieren, und jeder weiß, wie der zustandekommt. Mit diesem falschen Pathos wollen wir uns nicht aufhalten.

Der Richter hat aber auch im einzelnen unrecht.

In meiner Arbeit steht nicht zu lesen, daß der niederste Typus einer Gruppe ihr Vertreter ist; er ist es so wenig wie der höchste, den die[180] Herren zu ihrem Lob gern herangezogen haben möchten. Ich habe gesagt, daß der niederste Typus charakteristisch für das Niveau einer Gruppe ist: jener Typus nämlich, den sie grade noch ertragen kann. Beispiel:

Vergewaltigt ein deutscher Arzt eine minderjährige Patientin und sind dieser Tatbestand und die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters einwandfrei erwiesen, so wird die gesamte Ärzteschaft von dem Mann abrücken, mehr als das: sie wird ihn aus ihren Reihen entfernen. Also ist dieser Typus der Gruppe nicht aufs Konto zu setzen. Sie kann nichts dafür, daß er einmal in ihren Reihen gewesen ist – sie erträgt ihn nicht, sie schließt ihn aus.

Läßt sich ein deutscher Richter materiell bestechen, so reagiert die Gruppe sofort – alle Mitglieder werden den Mann ausgestoßen wissen wollen, das ehrengerichtliche Verfahren wäre in diesem Fall nur noch eine Formalität. Also ist der mit Geld bestochene Richter kein Prototyp des deutschen Richters.

Um aber den Stand der Unabsetzbaren richtig zu beurteilen, darf es wohl erlaubt sein, neben den Festreden des Reichsgerichts jenen Typus zu betrachten, den man in hundert und aber hundert Gerichtsstuben amtieren hören kann, in Gleiwitz und in Köln, in Breslau und in München. Da ist es mitunter schwer, ruhig zu bleiben . . . diese Mischung von subalternem Geist, von Überheblichkeit, von dummen und sachlich verkehrten Moralanschauungen, von Einsichtslosigkeit in wirtschaftliche Zusammenhänge, von vermuffter Seelenkunde, die keine ist . . . gibts das oder gibts das nicht? Das gibts.

Und solange die Gruppe der Richter nicht gegen diesen Typus demonstriert, und sei es auch nur in einer ernsthaften Opposition, solange sich ›die‹ Richterschaft in falsch verstandenem Kollegialitätsgefühl immer gegen den ›Laien‹ auf die Seite des so überschätzten Fachmannes stellt –: solange nenne ich einen deutschen Richter einen deutschen Richter. Und ich möchte das so verstanden wissen, wie es ein Proletarier versteht, der – den Bericht von nationalsozialistischen Strafprozessen im Gedächtnis – vor diesen Talaren steht.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 29.07.1930, Nr. 31, S. 178.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 180-181.
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