Die Großen

[171] Kein Kind versteht die Erwachsenen – so, wie ja auch die Erwachsenen gewöhnlich ihre Kinder nicht verstehn. Die Kinder sehen auf die Großen herab . . . Was die alles machen! was die so für Sorgen haben! weshalb sie sich laut gebärden und was sie nicht sehen und mit welchen geheimnisvollen Arbeiten sie sich befassen und wichtig tun! Kein Kind versteht die Erwachsenen; es fühlt sie nur manchmal.

Nun bin ich auch erwachsen und verstehe meine Miterwachsenen doch nicht sehr schön. Es ist wohl vor allem der tierische Ernst, von dem der Weise als von dem Kennzeichen niedriger Naturen spricht, der mich fernhält. Wie nehmen sie es alles ernst! Sich und ihren Beruf und ihr Haus und ihre Familie und ihr Vaterland und ihre Partei und[171] ihr Geld, na, das vor allem – und da ist kaum ein Augenblick, in dem sie sich einmal selber auf den Kopf spucken können, über sich selber lachen, einmal aus sich herausgehen . . . nicht doch. Ich stehe daneben wie Chaplin: ich muß immerzu den Kopf schütteln. Und sehe an mir herunter: Ja, trage ich denn noch kurze Hosen? Nein, im allgemeinen nicht. Ich sollte doch nun auch als Original-Erwachsener mit den Großen groß tun . . . ich kann nicht. Das ist sehr gefährlich – man darf es gar nicht laut sagen; dann nehmen sie einen nicht mehr für voll. »Der Mann is nich zerjeehs«, sagen sie dann. Ich kenne Kaufleute, die sind jünger als ich; wenn die vom Geschäft sprechen, bin ich wieder sieben Jahre, klettere meinem Papa auf dem Schoß herum, und der sagt: »Jetzt störe mal nicht! Also, Herr Fahrenholz – wir haben bei der Kontrolle festgestellt . . . « Dabei war Vater nicht ernster, als er unbedingt mußte, er hatte Humor – aber wenn er über seine Geschäfte sprach, dann machte er das ganz ernst und vernünftig, und ich verstand kein Wort. Ich sah an ihm hoch . . .

Ich sehe heute an den Erwachsenen hoch. Das kommt vielleicht auch daher, daß sie alle einen richtigen Beruf haben, der sie ergriffen hat (sie bilden sich ein: den sie ergriffen haben). Wenns windig ist, halten sie sich an dem fest. Ja, ich kann das auch – aber dann muß ich mich verstellen. Im Laufe der Jahre lernt man so allmählich, was man in den verschiedenen Lagen tun muß: hier lügen und da mit Aplomb die Wahrheit sagen und auf alle Fälle furchtbar ernst sein. Manchmal juckt es mich gradezu, während solch eines Gesprächs, Verzeihung: Verhandlung, pardon: Konferenz, den Partner ein bißchen in die Seite zu schubsen und zu sagen; »Max. Das ist doch alles Zimt. Hör mal zu, wir wollen das so machen . . . « Aber das darf man nicht. Man muß sein Gesicht glatt halten, wie wenn ein unsichtbares Monokel drin säße, kalt und hart, römisch-japanisch, und dann muß man sagen: »Ich habe da noch einige Bedenken. Die Ziffer IV des Vertrages . . . « So muß man. Aber man möchte das nicht.

Und daher bringts denn auch unsereiner zu nichts. Geld will ernst genommen werden; sonst kommt es nicht zu dir. Und ich werde immer jünger und werde wohl mit siebzig reifenspielend im Tiergarten angetroffen werden und selig die Kinderbücher meiner Jugend lesend. Und wenn mir heute auf dem Lande Kinder begegnen, die scheu den fremden, dicken Mann grüßen, dann möchte ich immer hingehn und sagen: Kinder, ich gehöre ja eigentlich zu euch – nicht zu euerm Lehrer! Aber das glauben sie mir nicht, für sie bin ich ein Erwachsener. Und für die Erwachsenen ein halbes Kind. Man hats gar nicht leicht im menschlichen Leben.


  • [172] · Peter Panter
    Die Weltbühne, 01.07.1930, Nr. 27, S. 28, wieder in: Lerne Lachen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 171-173.
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