Zwei alte Leute am 1. Mai

[125] – »Weißt du noch, Alter, vor dem Kriege?

Wir haben manchen Mai erlebt.

Wir glaubten an die schnellen Siege –

du hast das Streikplakat geklebt . . . «

– »Ja, Alte, das waren schöne Zeiten . . .

Wir waren allemal dabei –

Ich seh uns noch im Zuge schreiten

am 1. Mai.«


– »Und unser Jüngster war noch klein. Den ließ ich

zu Haus . . . wir gingen los mit Hans.

Mitunter wars ja etwas spießig –

so . . . Kriegerverein mit Kaffeekranz.«

– »Na, laß man – du warst doch die Nettste!

Mir wars bloß zu viel Dudelei . . .

Und anno 14 wars denn auch der letzte –

der 1. Mai.«


– »Kein Wunder. Mußt mal denken, Alter:

Wer ist uns da voraufmarschiert!

Der Wels als roter Fahnenhalter,

der Löbe, prächtig ausstaffiert . . . «

– »Ja solche haben glatte Hände . . .

Für die ist frisch, fromm, frech und frei

der Klassenkampf schon längst zu Ende –

Die und der 1. Mai!

Was wissen die vom Klassenkrieg . . . !

Die schützen sich vor ihrer eigenen Republik –!«


– »Na, laß man, Alter, die Beschwerde.

Ich weiß, daß etwas in uns singt:

Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt!«

– »Wir wissen, Alte, was wir lieben:

den Klassenkampf und die Partei!

Wir sind ja doch die Alten geblieben

am 1. Mai! Am 1. Mai!«


  • [125] · Theobald Tiger
    Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 17, S. 329.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 125-126.
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