Englische Perücken

[232] In England ist manches von Charell inszeniert, u. a. das ›Weiße Rößl‹, die Truppenschau und die Gerichtspflege.

Wenn das matte Tageslicht von oben auf den rotgekleideten Richter fällt, vereinen sich die braunen Tische, die weißen Perücken der Gerichtspersonen, die Talare und alle Farben zu jener seltsamen Harmonie von Gedämpftheit, die das englische Landschaftsbild auszeichnet, ein leiser Vielklang.

Jede Justiz verkleidet sich. Die Verkleidung besagt, wo immer wir sie antreffen: hier spricht nicht eine Privatperson, sondern ein Instrument des Staates, etwas sozusagen Unpersönliches. Daß es das nicht gibt, ist eine andere Sache – Standesuniformen unterstreichen allemal die Bedeutung des Standes, und machen eine menschliche Handlung zu etwas, was den Alltag überragen soll. Daher tragen der englische Richter und der englische Anwalt eine Perücke.

[232] Selbige ist aus Roßhaar und kostet etwa sieben Pfund. Kleine Löckchen sind in sie gedreht, beim Richter sind es wohl einige mehr als beim Anwalt. Es ist nicht jene Art von Perücke, wie wir sie beim Mister Speaker im Unterhaus sehen – die fällt auf beiden Seiten lang herunter. Die richterlichen Perücken sind kleiner und beinahe zierlich. Perücken 1931 – das ist eine merkwürdige Sache.

Wenn sich Menschen in historische Gewänder ihres Volkes stecken, dann gibt es zweierlei Möglichkeiten: sie sehen unsagbar lächerlich aus, oder aber das Kostüm hebt das Gesicht der Rasse. Mit den Ritterrüstungen ist das meist so eine Sache; die Tracht des achtzehnten Jahrhunderts, von Franzosen getragen, zeigt zum Beispiel, wieviel ungekannte Hofleute noch unter ihnen wandeln, wieviel witzige Barbiere; wieviel geschmeidige Köche und galante Abbés . . . im Zivil ist das kaum zu sehen. Die englische Gerichtsperücke hat vielerlei Wirkungen auf ihre Träger.

Ich bin durch viele Säle der Courts gegangen. Manchen Richtern hilft die Perücke gar nichts. Sie haben sich das Ding übergestülpt und sehen nun aus wie der Dorfrichter Adam; die Perücke sitzt hilflos da oben und hat überhaupt keine Beziehungen zum Träger. Sie mag ihn nicht. Und er bleibt unter ihr ein sicherlich höchst ehrenwerter Herr Jones oder Smith, aber weiter auch gar nichts.

Bei anderen aber arbeitet der Roßhaardeckel erst etwas heraus, was bei ihnen im Gewand des Bürgers, ohne Talar und außerhalb des Gerichts, vielleicht nicht zu sehen ist: die Gesichter werden in einem Maße englisch, scharf und charakteristisch, daß es beinahe wie inszeniert aussieht. Zu gut, denkt man; das kommt im Leben eigentlich nicht vor. Es kommt vor.

Der untere Rand der Perücke schneidet oben an der Stirn so scharf ab, daß manche Gesichter wie aufgesetzte Masken aussehen – man möchte die Gesichter abreißen und das darunter liegende Gesicht sehen. Das Richtergesicht lächelt freundlich und spricht begütigend; nachher wird es etwas sagen, und dann wird einer aufatmend nach Hause gehen, oder lange Jahre in einer kleinen Stube sitzen . . .

Übrigens darf man diese Mützchen nicht von hinten sehen – darauf ist die Sache nicht eingerichtet. Einmal stand ich hinter einem plädierenden Anwalt, und die Perücke hob sich hinten ein wenig, und da kam das zivile Haar zum Vorschein, da ist dann gar nichts mehr von Würde der Gerichtsperson und dergleichen: unter dieser Perücke sitzt das, was Auto fährt und durchaus von heute ist.

Manche Perücken wachsen nach innen.

Haben diese Perücken auch einen Zopf –? Es gibt eine so schöne Redensart im Berlinischen: »Das kann man von der Stadtbahn aus nicht sehn!« – Ich sitze vorläufig in London noch auf der Stadtbahn, sehe die Perücken an und schweige.[233]


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 23.06.1931, Nr. 290.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 232-234.
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