Europäische Kinderstube

[263] »rapprochement (raproschmá) m. 1. Zusammenrücken n, Wiederannäherung f; (réunion) Vereinigung f. 2. fig. (réconciliation) Annäherung f, Versöhnung f«

Sachs-Villatte


Die pariser ›Comoedia‹ vom 19. Juli enthält auf der ersten Seite folgenden Artikel:

Das merkwürdige Schamgefühl Thomas Manns wird Paris mit einem skandalösen Buch beschenken.

[263] Nächstens wird bei Bernard Grasset ein neues Werk Thomas Manns ›Sang réservé‹ erscheinen.

Der Inhalt ist allem Anschein nach äußerst anstößig.

So anstößig, daß Thomas Mann unmittelbar nach Erscheinen der deutschen Ausgabe alle bereits ausgedruckten Exemplare aus dem Handel zurückgezogen hat. Das Romanthema ist: Blutschande.

Dieses Werk ist auch nicht in den Gesammelten Werken Thomas Manns, die zur Zeit erscheinen, aufgenommen.

Man nimmt wohl in Deutschland an, daß Frankreich weniger Schamgefühl hat. Herr Thomas Mann, der befürchtet, seine Landsleute vor den Kopf zu stoßen, hat keinerlei Bedenken, dergleichen mit Frankreich zu tun.

Ist das nun seinerseits ein Zeichen von Hochachtung für unsre Fähigkeit, uns von allem das Beste auszuwählen?

Oder muß man in seinem Verhalten nicht im Gegenteil eine für uns sehr unfreundliche Unverfrorenheit sehen? Dies Buch ist für Deutschland nicht gut. Aber für Frankreich, nicht wahr, ist es noch alle Tage gut! Schließlich ist ja für ein so verdorbenes Volk wie das französische nichts zu gewagt . . .

Immerhin hat aber dieses verdorbene Volk in seinen Cafés, in seinen Restaurants, in seinen Theatern und auch nicht in der Gesellschaft jenen Geschlechterwechsel organisiert, wie er in Berlin üblich ist.

Dieses verdorbene Volk hat die Lehre Freuds weder erfunden noch hat es sie und ihre zahlreichen Abarten theoretisch oder praktisch angewendet.

Dieses verdorbene Volk hält keine Kongresse über sexuelle Seltsamkeiten ab, wie wir noch im vorigen Jahr so einen Kongreß im Rheinland erlebt haben. Dieses Volk hat keine Koedukation, weder solche, bei der die Kinder angezogen sind, noch solche mit Nacktkultur, wie das in den großen deutschen Städten gang und gäbe ist, und so wundern wir uns über die plötzliche Schamhaftigkeit eines deutschen Autors, in demselben Lande, wo man dauernd Stücke spielt, die sich auch nicht eine Viertelstunde auf einer pariser Bühne halten könnten.

Wir wollen immerhin einem andern Deutschen, dem Fürsten Bülow, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der wendet sich im letzten Bande seiner Memoiren energisch gegen die üble Gewohnheit seiner Landsleute, Paris das moderne Babylon zu nennen.

P. L.

Es erscheint merkwürdig, daß ein großes Blatt wie ›Comoedia‹ offenbar nicht die Mittel besitzt, sich Redakteure zu halten, die lesen und schreiben können und die über Europa soviel Bescheid wissen, wie nötig ist, um sich eine Meinung über fremde Länder zu bilden.[264] Wo in aller Welt hat die Redaktion diesen Analphabeten aufgegabelt? Das muß nicht leicht gewesen sein – Frankreich hat so gute Schulen.

Was zunächst die Meinung angeht, Frankreich sei kein unmoralisches Land, so ist das der einzige Lichtblick in diesem traurigen Artikel. Ich habe mich seit Jahren bemüht, diese wirklich kindische Vorstellung aus den deutschen Köpfen herauszutrommeln; da aber die heimischen Schriftgelehrten immer viel besser über das Ausland orientiert zu sein glauben als die Leute, die dort leben, so ist das keine einfache Aufgabe. Der Rest des Artikels aber . . .

Da bemühen sich nun auf beiden Seiten wohlmeinende und gebildete Männer, ihre Völker über einander zu informieren. Die Deutschen sind über die Franzosen meist falsch, die Franzosen über die Deutschen meist gar nicht unterrichtet. Da erscheinen nun Übersetzungen: da geben sich französische Wochen- und Monatsschriften solche Mühe – und dann kommt einer und trampelt im Porzellanladen herum, daß es nur so kracht.

Zunächst ist das Buch ›Wälsungenblut‹, um das es sich hier handelt, nicht unsittlich. Thomas Mann hat das Werk meines Wissens nicht etwa aus sittlichen Bedenken aus dem Handel zurückgezogen, sondern aus Gründen, die nur ihn allein angehn. Diesem Schriftsteller vorzuwerfen, er schriebe unsittliche Bücher, ist nicht nur eine Niedrigkeit – es ist eine Dummheit, die einen gradezu katastrophalen Mangel an Bildung enthüllt. Eine solche Blamage hätte ›Comoedia‹ nicht nötig gehabt.

Es ist unrichtig, zu behaupten, Thomas Mann halte Frankreich für gut genug, dort Bücher abzusetzen, die man in Deutschland aus Gründen der Moral nicht veröffentlichen könne. Ganz abgesehen davon, daß es von diesem Werk eine begrenzte deutsche Ausgabe gibt: Thomas Mann spricht und schreibt französisch, weiß von Frankreich viel und hat sich während seines pariser Besuchs seiner Aufgabe mit Takt entledigt. Ich sehe die Wirkungen dieses Besuchs ganz anders an als er, aber der Artikel der ›Comoedia‹ ist ein Anwurf, der zurückgewiesen werden muß. Nicht der Wert der literarischen Leistung Manns steht hier zur Diskussion – die literarische Sauberkeit steht zur Diskussion. ›Comoedia‹ hat die Grundgesetze jeder geistigen Debatte verletzt.

Wenn die Homosexualität sich in Deutschland mitunter in den Vordergrund drängt, so hat das mancherlei Gründe. Germanische Rassen neigen mehr zur Gleichgeschlechtigkeit als lateinische (brüllt nicht, es ist so), und außerdem hat der Deutsche die fatale Neigung, aus allem eine ›Weltanschauung‹ zu machen, als welches Wort sich nicht ins französische übersetzen läßt. Mit Moral hat dergleichen nichts zu tun.

Koedukation ist keine Spezialität von Bordellen. Nacktkultur auch nicht. Der gesunde Versuch der Bevölkerung, die entsetzliche Wohnungsnot[265] durch sportliche Betätigung in frischer Luft auszugleichen, hat Auswüchse; es gibt auch törichte Vereine, wo Postsekretäre vor entsprechenden Frauenleibern ihre sicherlich sündige Lust zu bekämpfen vorgeben . . . was aber Körperpflege angeht, so fasse sich Paris an die eigne Nase: es hat wenig brauchbare Hallenschwimmbäder für das Volk, und was sich an Prüderie und Albernheit in französischen Seebädern begibt, reicht an das finsterste Bayern heran.

Auf deutschen Theatern werden Stücke gespielt, die nicht etwa unanständig sind, sondern die man in Paris deshalb auslachte und mit Recht auslachte, weil diese schwerfällige Art, sich dem Bett zu nähern, in Frankreich auf kein Verständnis trifft. Dort gleitet man in sanfter Kurve auf die Lagerstatt: der Deutsche sieht es vorher im Lexikon nach, obs auch stimmt. Unmoral? Nein: Privatdozenten der Sünde.

Was hingegen den Angriff gegen die Lehre Freuds angeht, so darf gefragt werden, ob der Verfasser jener Glosse auch nur ein einziges Mal ein Buch Freuds in der Hand gehabt hat. Ich möchte das bezweifeln. Er hält diese Lehre wahrscheinlich für einen Freibrief, Embryos zu vergewaltigen, was ja die Deutschen bekanntlich zum Frühstück zu tun pflegen.

Kurz: Rapprochement.


Auf welchem Erdteil leben wir!

Man kann sich an den Fingern abzählen, was nun für ein Spiel anhebt.

Die völkischen Esel werden begeistert I-A schreien, weil der Erbfeind den Juden Thomas Mann verunschimpfiert hat. Und sie werden hinzufügen: »Da sieht man, wie diese Pornographen den Ruf des braven deutschen Volkes im Ausland schädigen! Da hat mans wieder!« Das Spiel hat schon angehoben. Die ›Deutsche Zeitung‹ ist schwer begeistert, schäumt vor Schadenfreude und wirft mit Bourdet zurück, dessen leichtes Spiel vom ›Sexe Faible‹ sie für »französische Selbstentlarvung eines verendeten Zeitalters« hält. So wenig weiß sie von Frankreich.

Und dann werden wieder die Franzosen antworten, die Deutschen seien Heuchler und Ferkel. Wenn sie überhaupt antworten – denn die meisten von ihnen können ja nicht deutsch lesen. Und dann werden die völkischen Esel ihr Gebrüll wieder aufnehmen und über den Rhein rufen, Paris sei viel schlimmer als Babylon, schlimmer schon deshalb, weil es so teuer sei. Und alle Franzosen tränken immerzu Champagner, und woraus, das könne man nur in Herrengesellschaft erzählen. Und so vergnügen wir uns alle Tage.

Narren. Ein Haufe von Narren, denen das eigne Land zum religiösen Begriff geworden ist. Und da jede Religion ihren Teufel nötig hat: der Teufel das ist allemal der Ausländer.

[266] Wir brauchen Thomas Mann nicht in Schutz zu nehmen. Die Sauberkeit des literarischen Betriebes gegen Schmierfinken aber wollen wir doch wahren.

So zum Beispiel werden Kriege vorbereitet.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 18.08.1931, Nr. 33, S. 266.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 263-267.
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