Lehár am Klavier

[270] Es gibt in London einige Kinos, deren Programme nur aus einer tönenden Wochenschau bestehen, das ist recht lustig mitanzusehn. Natürlich ist dieses Zeug zensiert, gesiebt, geprüft und noch einmal geprüft – vom Hersteller bis zum Zensor eine einzige Kette von: »Pst! Das können wir nicht machen! Aufnahmegenehmigung verweigert!«, und das interessanteste an dieser Wochenschau ist sicherlich das, was sie alles nicht und niemals bringt.

Sie zeigt hauptsächlich Massen: Feste und Aufzüge und immer wieder Militär und Flottenrevuen in tausend verschiedenen Aufmachungen. Der Steuerzahler hat ja etwas von seinem Militär: nicht nur, daß er gratis totgeschossen wird, wenn die nationale Ehre es erfordert, nein, schon im Frieden ersetzt ihm das Militär die große Oper. Das bekommt man hier alles zu sehn.

Und Rennen werden vorgeführt, die so geschickt fotografiert sind, daß man auch vom besten Platz niemals so viel und so gut beobachten könnte . . . und plötzlich, mitten in London, was war denn jetzt dös? Da hätten wir den Herrn Lehár.

Ein Text zeigt an, daß er nun gleich erscheinen wird, und daß er uns etwas auf dem Klavier vorspielen wird, und daß man auch zugucken könnte, wie er an einer neuen Operette arbeiten täte. Ich sehe solche unanständigen Sachen für mein Leben gern, und vor Aufregung kniff ich mir ins Bein, weil keiner da war, den ich hätte kneifen können – und los gings. Da war er.

Da saß also ein ziemlich dicker, gemütlicher Mann an einem Klavier, und die Wochenschau sprach mit seiner Stimme:

»Ich freie mich, daß meine Melodien in der ganzen Welt gespielt werden, und ich heere, daß man mich nun auch mal sehen mechte . . . und daher . . . «

Und daher spielte er uns zunächst auf einem sehr mäßigen Klimperkasten je ein paar Takte aus seinen alten Operetten, von denen ja die ›Lustige Witwe‹ wirklich hübsche Musik enthält. Und dann spielte er dieses, und dann spielte er jenes, und warum soll er nicht, das wäre[270] ja alles gut und schön. Nun aber kam das mit der neuen Operette – wir sollten einen Blick in die Werkstatt des Meisters tun.

In der Werkstatt standen zwei Librettisten.

Allmächtiger Vater im Himmel, der du die Käsemaden erschaffen hast und den Hitler, die Hundewürstchen und schwarze und rote Pfaffen und die fleischliche Liebe mit Kompott – lieber Gott, das hättest du nicht tun dürfen! Das nicht. Aber es war sehr lehrreich.

Die ischler Kurpromenade kenne ich nur in unbevölkertem Zustand, aber jetzt weiß ich endlich, wie die Leute aussehen, die in Lehárs ›Friederike‹ den Satz aufgeschrieben haben: »Ja, hier ist alles in Poesie getaucht!« Da standen die beiden Taucher, und es war ganz herrlich. Der eine, der Kleine, sagte gar nichts, er stand nur da und war der Textdichter. Der größere Taucher aber, das war der, der die schönen Lieder schreibt, und eines davon hatte er auf einem Papier in der Hand, und sie taten so, als seien sie in der Werkstatt, das waren sie aber nicht, dazu wurde zu wenig gefuchtelt, es ging alles so ruhig her, und der Taucher sagte zu Lehár: »Spiels amal, damit wir sehn, obs auch klappt!«

Und Lehár spielte, und der Taucher sang mit . . . nein, das ja nun nicht, denn er konnte nicht singen, und das kann ja auch kein Mensch von ihm verlangen. Gott, es singen so viele, die das nicht können! Und er fing an:

Wenn die Liebe will,

stehn die Sterne still . . .

aber da unterbrach er sich und sprach: »Ich deute nur an« und dann deutete er an:

»Und die ganze Erde wird ein Märchenland!« – und Lehár paukte, und der Kleine stand dabei, und:

»Der Erfolg einer Operette hängt in hohem Maße von einem guten Libretto ab. Die Personen des Stückes müssen lebenswahr gezeichnet und ihr Schicksal dem Verständnis des Publikums nahe gebracht werden. Ich nehme gewöhnlich ein Libretto nur dann an, wenn mich das Geschick der Heldin des Stückes packt und wenn mich die Erlebnisse des Helden so gefangennehmen, als handele es sich um meine eigene Person. Die Schürzung des Knotens und dessen Lösung muß zwanglos und in logischem Zusammenhang erfolgen.« Also sprach Lehár.

Es war sehr erhebend. Man hörte ordentlich den Tenor, wie der das aber nun hinlegen würde. Ein männlicher Kritiker sollte niemals etwas über Tenöre aussagen – wir sind da nicht kompetent. Wenn die Frauen so leise zerfließen, weil der Tenor im Falsett haucht: davon verstehen wir nichts, das ist ein physiologischer Vorgang, und Männer haben ja nur ganz selten einen Uterus. Wir müssen uns bescheiden: es ist dies eine Art, der Liebe teilhaftig zu werden, die uns verschlossen bleibt.

»Warum besitzt nun die Operette eine weit größere Anziehungskraft[271] auf das Publikum als irgend ein anderes Bühnenwerk? Meiner Meinung nach liegt es daran, daß die Operette dem allgemeinen Geschmack am meisten gerecht wird. Die Oper, das Schauspiel, die Komödie, ebenso wie Novelle oder Gedicht bleiben in ihrer Wirkung auf einen Teil des Publikums beschränkt. Die Operette dagegen wendet sich an die gesamte Bevölkerung und findet überall Liebhaber. Man hat oft genug behauptet, daß die Operette dem seichten Geschmack des Publikums entgegenkomme. Trotzdem möchte ich behaupten, daß eine gute Operette durchaus geschmackbildend wirken kann. Dem kultivierten Zuschauer schafft sie Anregung und Vergnügen, während sie andererseits den Geschmack primitiver Naturen zu heben geeignet ist. In der Operette macht sich die Kunst sozusagen über sich selbst lustig. Der dramatische Sinn lacht über die törichten Verwicklungen des Lebens, der musikalische Sinn freut sich der graziösen und spielerischen Flüssigkeit der Melodien, das Auge ergötzt sich an den prächtigen Kostümen und den stilvollen Dekorationen. Alles in der Operette dient nur dem einen Zweck, dem Zuschauer eine ungetrübte Freude zu bereiten. In jedem Menschen schlummert, wie Nietzsche sagt, das große Kind. Diese Bemerkung trifft auf jeden Zuhörer der Operette, besonders aber auf die Frau zu, die mächtigste Verbündete der Operette. Sie sieht sich selbst in der Primadonna verkörpert, von der Bewunderung, die man der Heldin entgegenbringt, fühlt sie sich selbst umschmeichelt. Für die Frau tragen alle Operetten den Titel: Wie gefalle ich dem Mann? Aus Musik, Text und darstellerischer Leistung schöpft sie neue Kenntnis der Anmut und Kunst des allewigen Liebesspiels.« Also sprach Lehár.

Dabei klingen alle seine Melodien ganz gleich, es ist gewissermaßen die ewige Melodie, und man kann sie alle untereinander auswechseln. Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehár ist dem kleinen Mann sein Puccini.

Und dieser Dreck ist international, und die ausübenden Künstler bilden sich gewiß ein, sie erfüllten eine hohe Kulturmission, wenn sie das Zeug in aller Welt sängen. »Denken Sie, der Mut! Er singt in England und nun gar vor dem König deutsch!« Die nationale Ichbezogenheit der Deutschen glaubt ja gern, daß überall ›etwas passiert‹, wenn sie auftauchen; es geschieht aber in Wahrheit gar nichts, und in London kann einer abessinisch, nordchaldäisch, deutsch oder hebräisch singen: wenn er nur gut singt.

Brot und Spiele . . . Mit dem Brot ist es zur Zeit etwas dünn. Na, da spieln mir halt. Lehár, mein Lehár, wie lieb ich dich –!


  • [272] · Peter Panter
    Die Weltbühne, 25.08.1931, Nr. 34, S. 307.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 270-273.
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