Schnipsel

[98] Die Psychologie, wie wir sie in den meisten, also schlechten Filmen sehn, ist durchaus nicht so weltfremd, wie man denken sollte. Sie kehrt in vielen Urteilsbegründungen der Strafkammern wieder.


Jeder historische Roman vermittelt ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers.


Wenn ich so die unentwegten Marxisten lese, dann frage ich mich immer: Wird eigentlich in Rußland auch gestorben? Und was ist der Tod bei denen? Ein Betriebsunfall? Ein kleinbürgerliches Vorurteil?


Die Leute blicken immer so verächtlich auf vergangene Zeiten, weil die dies und jenes ›noch‹ nicht besaßen, was wir heute besitzen. Aber dabei setzen sie stillschweigend voraus, daß die neuere Epoche alles das habe, was man früher gehabt hat, plus dem Neuen. Das ist ein Denkfehler.

Es ist nicht nur vieles hinzugekommen. Es ist auch vieles verloren gegangen, im guten und im bösen. Die von damals hatten vieles noch nicht. Aber wir haben vieles nicht mehr.


Jede Glorifizierung eines Menschen, der im Kriege getötet worden ist, bedeutet drei Tote im nächsten Krieg.


Was die Leute nur immer mit der Unsterblichkeit und mit der Nachwelt haben! Wer in Breslau wohnt, kauft sich seine Stiefel nicht in Klondyke – Breslau hat selber Schuhgeschäfte. Jede Zeit deckt ihren Alltagsbedarf bei sich und nicht bei vergangenen Epochen. Das Jahr 2114 wird seine Künstler, Schwindler, Schuster und Politiker haben –[98] es braucht die unsern nicht. Es wird auf manche zurückgreifen, aber nur auf wenige, und auch die werden nicht allein nach ihrer Größe ausgewählt, sondern nach den Bedürfnissen der Zeit. Wie machen wir es denn? Wir machen es genau so.


Bitter, wenn sie einen Liebhaber gehabt hat, der mit Vornamen so heißt wie du.


Wenn sich im Jahre 1890 eine alte Jungfer beim Arzt einer großen Untersuchung unterziehen mußte und wenn der Arzt, als ob das gar nichts Wäre, sie aufforderte, sich auszuziehen, dann konnte es wohl geschehn, daß die Dame mit einem Augenaufschlag errötend flüsterte: »Darauf bin ich nicht eingerichtet!«

Der Widerstand gegen die Psychoanalyse ist nichts andres.


Kennzeichen eines zweitrangigen Schriftstellers: » . . . entgegnete er sachlich.« Das Wort bedeutet überhaupt nichts mehr, man kann es fortlassen, ohne daß sich der Sinn ändert, und es zeigt nichts an als die Unfähigkeit eines Gehirns, sich gegen das Gewäsch der Modewörter zur Wehr zu setzen.


Da erzählen sich die Leute immer so viel von Organisation (sprich vor lauter Eile: »Orrnisation«). Ich finde das gar nicht so wunderherrlich mit der Orrnisation.

Mir erscheint vielmehr für dieses Gemache bezeichnend, daß die meisten Menschen stets zweierlei Dinge zu gleicher Zeit tun. Wenn einer mit einem spricht, unterschreibt er dabei Briefe. Wenn er Briefe unterschreibt, telefoniert er. Während er telefoniert, dirigiert er mit dem linken Fuß einen Sprit-Konzern (anders sind diese Direktiven auch nicht zu erklären). Jeder hat vierundfünfzig Ämter. »Sie glauben nicht, was ich alles zu tun habe!« – Ich glaubs auch nicht. Weil das, was sie da formell verrichten, kein Mensch wirklich tun kann. Es ist alles Fassade und dummes Zeug und eine Art Lebensspiel, so wie Kinder Kaufmannsladen spielen. Sie baden in den Formen der Technik, es macht ihnen einen Heidenspaß, das alles zu sagen; zu bedeuten hat es wenig. Sie lassen das Wort ›betriebstechnisch‹ auf der Zunge zergehn, wie ihre Großeltern das Wort ›Nachtigall‹. Die paar vernünftigen Leute, die in Ruhe eine Sache nach der andern erledigen, immer nur eine zu gleicher Zeit, haben viel Erfolg. Wie ich gelesen habe, wird das vor allem in Amerika so gemacht. Bei uns haben sie einen neuen Typus erfunden: den zappelnden Nichtstuer.


  • [99] · Peter Panter
    Die Weltbühne, 21.06.1932, Nr. 25, S. 937.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 98-100.
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