Nachher

[137] »Kommen Sie mit ins Wasser-Sanatorium?« sagte er. Ich sah ihn an. »Wird hier jemand geheilt?« sagte ich. »Jemand . . . ja«, sagte er. »Sie verstehen nicht richtig: da wird nicht mit Wasser geheilt. Anders: denken Sie an Kinderkrankenhaus. Wird da mit Kindern geheilt? – Kinder werden geheilt.« – »Wollen Sie vielleicht sagen, daß hier Wasser geheilt wird?« sagte ich. »Krankes Wasser . . . das habe ich noch nie gehört.« – »Sie sind nun schon so lange hier«, sagte er, »und kennen sich noch immer nicht aus. Kommen Sie mit.«

Es war hinter dem Wasserplaneten, einer dicken, gurgelnden und etwas lächerlichen Sache, die da wie rasend umherwirbelte. An den Rändern zischten die Spritzer in der Rotationsrichtung, der Himmelskörper speichelte sich durch den Raum. Den ließen wir turbulieren, dann kam der große Salzsee, darüber hinaus war ich noch nie gewesen. Dann kam es.

Weit, äonenweit: Wasser, eine stille Fläche. Sie lag in der Luft wie eine hauchige Scheibe, glasdünn, glasklar, wie mir schien. Ich sagte ihm das. »Es ist nicht klar«, sagte er. »Das ist es eben. Es ist hier zur Erholung, das Wasser. Es ist abgeguckt.« – »Was ist es –?« sagte ich. »Es ist abgeguckt«, sagte er. »Sie haben da alle hineingesehn – setzen wir uns. Ich werde Ihnen das erklären.« Wir setzten uns an den Rand der Wasserglasplatte. Man konnte die andern Wolken sehn, die unterhalb wimmelten.

»Was tun die, die Muße haben, wenn man ihnen Wasser oder Feuer vorhält?« sagte er, »Sie sehen hinein«, sagte ich. »Richtig«, sagte er. »Aber . . . sie sehen nicht nur hinein. Sie lassen sich hineinfallen. Die Augen werden glasig, das Gehirn arbeitet nicht, es ist ein Halbtraum. ›Das Leben zog in den Flammen an ihr vorüber‹ – das steht in den Büchern. Es zieht gar nichts vorüber. Die da springen aus dem vorüberlaufenden Strom der Zeit ins Wasser, ins Kaminfeuer, wie auf eine kleine Insel; da stehen sie und blicken verwundert um sich. letzt strömt das andre, und sie selbst bleiben. Die Nerven lassen nach, alles läßt nach, ist entspannt – die Zügel hängen lässig über die Wagendecke, langsamer laufen die Zeitpferde . . . da senken sie sich ins Wasser.« – »In dieses Wasser hier?« sagte ich. »Eben in dieses«, sagte er. »Sie haben so viel hineingetan, das Wasser ist voll davon, und jetzt ruht es sich aus. Mein Lieber, wer hat da alles Bröckchen des[137] Lebens hineingeworfen! Bröselchen von Schmerz, Erinnerung, Wehleidigkeit, Faulheit, Tobsucht, zerbissene Wut, heruntergeschlucktes Begehren –! Das strengt an. Das arme Wasser liegt hier und ruht. Es muß wieder sauber werden. Es ist vermenscht.«

»Warum tun sie es?« sagte ich. »Sie brauchen das«, sagte er. »Wenn die Flammen züngeln, werden sie nachdenklich – bei den Flammen geht es noch besser, sie verbrennen alles, was in sie hineinfällt. Wenn das Meer rauscht, werden sie nachdenklich – sie fühlen plötzlich Halbvergeßnes, einer klopft an die Tür, an eine wenig beachtete, kleine Hintertür . . . sie öffnen den Spalt – da kommt es herein. Und drängt sie halb aus dem Haus, mit einem Fuß stehn sie draußen; außer sich. Für Augenblicke sind sie Pflanze geworden, sie wachsen dumpf vor sich hin, auch dieses Wachstum ist manchmal angehalten. Dann steht die Zeit still, und die Urmelodie wird hörbar: das Leid. Haben Sie jemals einen gesehn, der froh ins Wasser gesehn hätte, froh ins Feuer –?« Ich sagte, daß ich es nie gesehn hätte. »Also, was ist es –?« sagte ich. »Was empfinden sie, was bedeutet das?« – »Es ist eine Art Generalprobe«, sagte er. »Es ist ein süßschwacher Tod.«

Wir standen langsam auf und schoben uns von der Wasserplatte fort. Sie lag da, ruhig atmend, und als wir davonschwammen, sah es uns nach: aus hunderttausend Augen.


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 28.12.1926, Nr. 52, S. 1019, wieder in: Mit 5 PS.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 137-138.
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