Nachher

[145] Wir hatten etwas Neues erfunden: wir fuhrwerkten Ihm in Sein Wetter, und Er war ganz verzweifelt. Hatte Er südöstlichen Regen mit leichten Erdbeben angesagt, so zogen wir des Nachts vorher hin und stellten das Erdbeben ab, und am nächsten Morgen war große Verwirrung: Er schimpfte auf das Barometer, und in den Erdbebengebieten sanken die Aktien der katholischen Kirche beträchtlich. Seit Er sich darauf versteift hatte nach dem Kriegsende das Wetter durchgehend schlechter zu machen, nahm unser Unfug kein Ende. Es war eine schöne Zeit.

Wir hatten Sein Barometer grade so durcheinandergebracht, daß es einem schon leid tun konnte, und nun ruhten wir uns von getaner Arbeit aus: sanft mit den Beinen baumelnd und gelöst vergnügt, wie wir es da unten nie gewesen waren . . .

»Haben Sie«, sagte er plötzlich, »eigentlich immer alles gesagt –?« – »Ich habe vieles gesagt«, sagte ich, »darunter auch manchmal das, was ich wirklich meinte. Aber immer –?« – »Immer«, sagte er, »und alles, darauf kommt es an. Haben Sie zum Beispiel alles über Ihre Freunde zu Ihren Freunden gesagt, über die, die Sie umgaben, die, die Sie umgaben?« –

»Wie hätte das sein können?« sagte ich. »Von den engem Freunden will ich gar nicht einmal reden – Freundschaft beruht darauf, daß eben nicht alles gesagt wird, nur so ist Beieinandersein möglich. Das ist nicht Lüge, das ist etwas andres?« – »Aber sonst –« – »Nun, sonst?« sagte er. »Ich habe nicht alles gesagt!« sagte ich. »Manchmal bin ich fast daran geplatzt. Aber ich hätte von Bruno sagen müssen, er sei im Grunde ein sattgefressener Versorgter, der nur so lange mit unsereinem umgehe, wie er beneiden oder verachten könne, von ihm aber dürfe man nichts wollen, nicht das Kleinste; und von Willi, daß er ein tragischer Schlemihl sei, dessen Unglück darin bestehe, das Unglück durch seine bloße Existenz herbeizulocken, einer jener vielen, die nichts dafür können . . . ; und von Hanno, daß seine Karriere uns dazu verleitet, den Blitz der Götter herabzuflehen, nur, damit jener doch einmal in seinem Leben einen aufs Dach bekäme; und von Oskarchen, daß er Sitten und Gebräuche eines kleinen Provinzlers sein eigen nenne, und daß der Umgang mit ihm nicht heiter sei; und von Lenchen . . . « – »Allmächtiger!« sagte er, »welche Liste –!« – »Rufen Sie Ihn nicht[145] beim Namen!« sagte ich. »Sie wissen, daß Er es nicht mag.« Wir lauschten. In der riesigen Weltennacht regte sich nichts, unser Streich war geglückt. Er würde morgen große Augen machen . . . »Welche Liste!« sagte er. »Und mit denen sind Sie umgegangen? Denn es waren immerhin Ihre nächsten Leute!«

»Ich hatte keine andern«, sagte ich. »Andre hätten mir auch gar nichts genützt. Aber ich habe es ihnen nicht gesagt, das da.« – »Und warum nicht –?« sagte er. »Weil«, sagte ich, »man so nicht leben kann – mit der Wahrheit in der Hand. Sie vertragen es nicht. Sie leben von der Lüge, von einer eingebildeten Überlegenheit, von dem Glauben, sie würden geachtet, während sie in Wirklichkeit nur benutzt, ausgenutzt, ignoriert und geduldet sind. Sag ihnen, wie du wirklich über sie denkst, wenn ein Brief von ihnen ankommt – und alles ist aus.«

»Und«, sagte er, »haben es Ihnen die andern gesagt, das Wahre –?« Ich sah ihn betroffen an. »Nein«, sagte ich. »Doch – ich glaube – ja. Ich denke . . . ja. Wie?« – »Und«, sagte er, »woraus leiten Sie Ihre Überlegenheit her, die Legitimation, so herablassend auf alle andern zu sehen, so vernichtend zu urteilen, die witzige Scheidung: Ich und die andern zu machen – woraus leiten Sie es her –?«

»Daraus, daß ich lebte«, sagte ich. Nun sprach er nicht mehr, und wir warteten auf den jungen Morgen.


  • [146] · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 19.06.1928, Nr. 25, S. 959.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 145-147.
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