10. August 1850

[54] M ..., den 10. August


Gestehe nur, Du erwartest heute von mir einen Brief voller Verzweiflung oder voll Entzücken. Weit gefehlt! Dieser Brief wird sein wie alle. Es ist nichts Neues vorgefallen, und wie mir scheint, kann auch nichts vorfallen. Vor einigen Tagen machten wir eine Spazierfahrt auf dem See. Ich will sie Dir beschreiben. Wir waren zu dritt: sie, ich und Schimmel. Ich begreife nicht, welches Vergnügen sie daran haben kann, diesen alten Deutschen so oft einzuladen. Man sagt, daß die Fürstin Ch. mit ihm unzufrieden sei, weil er anfange, seine Stunden zu vernachlässigen. Übrigens war er diesmal sehr unterhaltend. Priemkoff konnte uns nicht begleiten, da er an Kopfweh litt. Das Wetter war herrlich, lustig; große, phantastisch-zerrissene, weiße Wolken am blauen Himmel, überall Glanz, heiterer Lärm im Gehölz; am Ufer das Anschlagen und Plätschern des Wassers; auf den schlängelnden, goldglitzernden Wellen Frische und Sonnenschein!

Anfangs ruderten wir, Schimmel und ich, dann zogen wir das Segel auf, und so ging's im Fluge davon. Der Schnabel unseres Bootes durchschnitt die Flut, und hinterher zog sich mit Zischen eine schäumende Furche. Wera führte mit sicherer Hand das Steuer und lachte jedesmal, wenn das Wasser ihr ins Gesicht spritzte. Ihre Locken quollen unter einem Tuch, das um ihren Kopf geschlungen war, hervor und flatterten leicht im Winde. Ich lag hingekauert auf dem[55] Boden des Schiffes, beinahe zu ihren Füßen. Schimmel zündete seine Pfeife an, rauchte und begann mit angenehmer Baßstimme zu singen. Zuerst sang er das alte Lied: »Freut euch des Lebens«, dann die Arie aus der Zauberflöte, dann eine Romanze »Das ABC der Liebe«. In dieser Romanze wird das ganze Alphabet – natürlich mit angemessenen Sprüchlein – durchgegangen: von »ABCD – Wenn ich dich seh« bis »UVWX – Mach einen Knicks«. Schimmel sang alle Verse mit gefühlvollem Ausdruck, und Du hättest nur sehen sollen, wie schelmisch drollig er bei dem Worte »Knicks« mit dem linken Auge blinzelte. Wera konnte sich nicht enthalten, ihm lächelnd mit dem Finger zu drohen ... Ich bemerkte: Wie mir schiene, müsse Herr Schimmel in seinen jungen Jahren ein lustiges Bürschchen gewesen sein.

»O ja, ich konnte schon meinen Mann stehen«, erwiderte er mit würdigem Selbstgefühl, indem er die Asche aus seiner Pfeife klopfte. »Als ich Student war, o ho ho!«

Weiter sprach er nichts, aber in diesem »O ho ho!« lag eine vielsagende Beredsamkeit. Wera bat ihn, irgendein Studentenlied zu singen, und sogleich stimmte er an:


»Knaster, den gelben,

hat uns Apoll präpariert« usw.,


wobei er jedoch im Refrain etwas detonierte. Er war sehr in Zug gekommen. Inzwischen hatte sich der Wind recht erhoben, die Wellen gingen hoch, das[56] Boot kam ins Schaukeln; die Schwalben streiften dicht neben uns über dem Wasser hin. Wir zogen das Segel ein und begannen zu lavieren. Plötzlich schlug der Wind heftig um, es gelang uns nicht, den jähen Stoß zu parieren – eine Woge schlug über Bord, und wir hatten viel Wasser im Boot. Bei dieser Gelegenheit entwickelte der alte Deutsche eine wahrhaft jugendliche Kraft und Gewandtheit. Er riß den Strick aus meiner Hand und stellte das Segel kunstgerecht mit den Worten: »So macht man's in Cuxhaven.«

Wera mochte erschrocken sein, denn sie wurde bleich; doch, ihrer Gewohnheit treu, sagte sie kein Wort. Sie[57] hob ihr Kleid etwas auf und setzte die Füße auf einen Querbalken. Mir fielen plötzlich die Verse Goethes ein; seit einiger Zeit bin ich ganz erfüllt von ihm:


»Auf der Welle blinken

tausend schwebende Sterne –«,


und ich deklamierte laut das ganze Lied. Als ich an den Vers kam:


»Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?«,


erhob Wera sanft ihre Augen – ich saß tiefer als sie, so daß ihr Blick auf mich herabfiel – und sah lange in die Weite, beim Wehen des Windes unwillkürlich blinzelnd.

Ein feiner Regen begann zu tropfen und warf Bläschen auf dem See. Ich bot ihr meinen Paletot an, sie hing ihn um ihre Schultern. Wir gelangten ans Ufer, und ich reichte ihr den Arm, um sie nach Hause zu geleiten. Ich hatte das Bedürfnis, mich über so manches gegen sie auszusprechen, doch ich schwieg. Ich erinnere mich nur, sie gefragt zu haben, warum sie in ihrem Salon stets unter dem Porträt der Frau von Elzoff sitze wie ein Vogel unter den Fittichen seiner Mutter. »Ihr Vergleich ist sehr richtig«, erwiderte sie, »ich möchte nie ohne diese schützenden Flügel sein.«

»Warum wollen Sie Ihre Freiheit nicht genießen?« fragte ich wieder. Sie antwortete nicht.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Dir von dieser Spazierfahrt erzählt habe. Vielleicht darum, weil sie[58] für mich eines der wonnigsten Ereignisse in den letztverflossenen Tagen war, obgleich es, genau betrachtet, doch gar kein Ereignis zu nennen ist. Aber mir war so selig, so stillvergnügt und leicht ums Herz, daß Tränen, milde, süße Tränen mir unaufhaltsam in die Augen drangen.

Und denke Dir: als ich am andern Morgen dem Boskett zuschritt, hörte ich eine angenehme, wohlklingende Frauenstimme das Lied »Freut euch des Lebens!« singen. Ich näherte mich; es war Wera. »Bravo!« rief ich, »ich habe gar nicht gewußt, daß Sie eine so herrliche Stimme haben.«

Sie errötete und schwieg. Sie besitzt wirklich eine wunderhübsche Sopranstimme. Aber ich bin überzeugt, daß sie keine Ahnung davon hatte. Welche Schätze mögen noch unbewußt in ihr schlummern! Sie kennt sich selbst nicht. Aber ist eine solche Frau in unserer Zeit nicht ein wahres Wunder?


12. August


Wir hatten gestern eine seltsame Unterredung, indem wir auf Geistererscheinungen zu sprechen kamen. Wera glaubt daran und behauptet, gute Gründe dafür zu haben. Priemkoff, der auch zugegen war, senkte die Augen und nickte mit dem Kopfe wie zur Bestätigung ihrer Worte.

Ich richtete einige Fragen an sie, bemerkte aber bald, daß der Gegenstand ihr unangenehm war. Wir fingen an, über die Einbildung und die Macht, welche sie[59] über uns ausübt, zu reden. Ich erzählte, daß ich in meiner Jugend viel von Glück träumte, wie die meisten, die im Leben keines haben oder gehabt haben. Unter anderen Träumen war einer, der mich besonders entzückte: mit einer geliebten Frau einige Wochen in Venedig zu verleben. Ich dachte mir das so oft und so lebhaft aus, besonders nachts, daß ich ein vollständiges Bild davon gewann, welches ich nach Belieben vor mich hinzaubern konnte, – ich brauchte nur die Augen zu schließen. Folgendes malte ich mir aus. Eine linde, mondhelle Nacht voll Duft ... Du meinst vielleicht von Orangen? Nein, von Vanille und Kaktus; dazu einen weiten Wasserspiegel, eine große, von Olivenbäumen überwachsene Insel; auf der Insel, hart am Ufer, ein gemütliches Marmorhaus mit offenen Fenstern. Musik ertönt, Gott weiß, woher. Das Licht einer halbverhängten Lampe drinnen wirft einen sanften Schein auf die Zweige der dunkeln Bäume. Von der Brüstung eines der Fenster wallt eine Samtdecke mit Goldfransen hernieder bis zum Wasserspiegel. Auf diese Decke gelehnt, sitzen nebeneinander er und sie und schauen hinaus nach dem fern auftauchenden Venedig. Und alles das schwebte mir so deutlich vor, als ob ich es mit eigenen Augen gesehen hätte.

Wera hörte meinen Phantasien zu und sagte: auch sie habe oft Träumereien, doch ganz anderer Art. So träume sie sich in die Wüsten Afrikas neben irgendeinen kühnen Reisenden, oder sie folge den Spuren Franklins auf dem Eismeer und stelle sich lebhaft alle[60] Entbehrungen, alle Strapazen vor, mit denen sie zu kämpfen habe ...

»Du hast zuviel Reisebeschreibungen gelesen«, sagte ihr Mann.

»Kann sein«, erwiderte sie. »Aber wenn man einmal träumen will, was hat man nur davon, Unmögliches zu träumen?«

»Und warum nicht?« rief ich. »Warum das arme Unmögliche verdammen?«

»Ich habe mich falsch ausgedrückt«, erwiderte sie. »Ich wollte sagen: was hat man nur davon, Träumereien von unserem persönlichen Glück nachzuhängen? Damit erreichen wir's doch nicht – also wozu ihm nachjagen? Es ist mit der menschlichen Glückseligkeit wie mit der Gesundheit: wir besitzen sie, solange wir nicht daran denken.«

Diese Worte setzten mich in Erstaunen. Diese Frau hat eine große Seele, glaub es mir ...

Von Venedig kamen wir auf Italien und die Italiener zu sprechen. Priemkoff ging hinaus, und ich blieb mit Wera allein.

»Auch in Ihren Adern fließt italienisches Blut«, bemerkte ich.

»Ja«, erwiderte sie. »Soll ich Ihnen das Porträt meiner Großmutter zeigen?«

»Sie werden mich sehr verbinden.«

Sie ging in ihr Kabinett und brachte ein großes goldenes Medaillon mit heraus.

Sie öffnete es, und ich erblickte darin zwei ausgezeichnete Miniaturbilder: von ihrem Großvater und ihrer[61] Großmutter, jener Albanierin. Beim Großvater Weras fiel mir die Ähnlichkeit mit Frau von Elzoff, seiner Tochter, auf; nur kamen mir in der weißen Wolke von Puder seine Züge noch strenger und schärfer vor, und aus seinen kleinen gelblichen Augen zuckte finsterer Trotz. Aber welch ein Antlitz hatte die Italienerin! Üppig, offen wie eine voll blühende Rose, mit großen, feuchten Augen und selbstzufrieden lächelnden, frischroten Lippen; die feinen beweglichen Nasenflügel schienen noch wie nach feurigen Küssen zu zittern, die bräunlichen Wangen glühten nur so von Jugend, Gesundheit und weiblicher Kraft. Diese Stirne war, Gott sei Dank, von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt! ... Sie war dargestellt in ihrer albanesischen Tracht; der Künstler hatte in ihr pechschwarzes, bläulichschimmerndes Haar einen Rebenzweig geschlungen. Dieser bacchische Schmuck paßte ganz vortrefflich zu dem Ausdruck ihres Gesichtes. Und weißt Du, an wen dieses Gesicht mich erinnert? An unsere Manon Lescaut in dem schwarzen Rahmen. Was aber das Merkwürdige ist: es schien mir bei längerer Betrachtung des Porträts, daß auch Weras Gesicht trotz der Grundverschiedenheit der Umrisse eine gewisse Ähnlichkeit damit im Lächeln und im Blick habe – – –

Ja, ich wiederhole es: weder sie selbst noch irgend jemand auf der Welt kennt alles, was in ihr schlummert ...

Noch etwas! Frau von Elzoff hat einige Tage vor Weras Vermählung ihre ganze Lebensgeschichte, den[62] Tod ihrer Mutter usw. – wahrscheinlich zu didaktischem Zwecke – ihr erzählt. Auf Wera machte einen ganz besonderen Eindruck das, was sie von ihrem Großvater, jenem geheimnisvollen Herrn Ladanoff, erfuhr. Ob etwa daher ihr Glaube an Geistererscheinungen rührt? Es ist seltsam, daß gerade diese so reine und lichte Seele die finstere, unterirdische Welt fürchtet und daran glaubt ...

Doch wozu schreibe ich Dir alles das? Übrigens, da ich es einmal auf das Papier geworfen habe, mag es auch an Dich abgehen.

Dein P. B.

Quelle:
Turgenjew, Iwan: Faust. Übertragung ins Deutsche von Friedrich von Bodenstedt, Berlin 1961, S. 54-63.
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